# taz.de -- Leiterinnen des Literaturhauses Berlin: Zusammenprall der Welten | |
> Institution entstaubt: Vor einem Jahr haben Sonja Longolius und Janika | |
> Gelinek das Literaturhaus Berlin übernommen. Nun ist da alles anders. | |
Bild: „Als wir das Haus bekamen, war uns nicht klar, wie sehr es im alten Wes… | |
Wolfgang Hörner, einer der originellsten Verleger in diesem Land, sitzt an | |
einem strahlend schönen Vorfrühlingstag mitten in der Woche um 12.30 Uhr im | |
fast voll besetzten kleinen Saal des Literaturhauses Berlin und erklärt dem | |
Publikum, warum es sich nicht nur auf die europäischen Werte des Erasmus | |
von Rotterdam besinnen, sondern ihn ruhig auch mal lesen soll. | |
Hörner stellt mit seinem Mitstreiter Tobias Roth ein neues Buch in einem | |
jungen Berliner Verlag vor, bei dem beide mitmachen, dem Verlag Das | |
kulturelle Gedächtnis. Das Buch versammelt eine Auswahl der Sprichwörter, | |
die Erasmus gesammelt und deren Herkunft er erklärt hat. Der Auslöser für | |
das Buch: Hörner kann es bis heute kaum fassen, dass ausgerechnet die | |
[1][AfD ihre Stiftung nach Erasmus benannt hat]. | |
„Mir war erinnerlich, dass er an Deutschland nicht sonderlich interessiert | |
war“, sagt er schmunzelnd, als sei er noch immer sehr verwundert darüber – | |
und schaut dann mindestens ebenso erstaunt in die so unterschiedlichen, | |
alten und jungen Gesichter der Menschen, die ihm zuhören. Wirklich irre, | |
dass hier so viele mitten am Tag erfahren wollen, was ein Gelehrter des | |
Renaissance-Humanismus am Sprichwort „Wir sitzen alle im selben Boot“ so | |
interessant fand – oder auch an dem vom Streit, der Streit sät. | |
Tatsächlich ist nicht nur das einigermaßen sensationell, sondern auch, wie | |
sich die Reihe namens „Brown Bag Lunch“ überhaupt im Literaturhaus | |
etabliert – ja, wie sich das ganze Literaturhaus Berlin [2][in so schneller | |
Zeit vom Kopf auf die Füße gestellt hat]: mit zwei neuen, jungen Chefinnen | |
an der Spitze, der Literaturwissenschaftlerin Janika Gelinek und die | |
Amerikanistin und Kunsthistorikerin Sonja Longolius, Jahrgang 1978 und | |
1979, die das Haus vor einem Jahr übernommen haben. | |
„Wir hatten den Brown Bag Lunch ursprünglich ganz anders angedacht“, | |
berichten Gelinek und Longolius direkt nach der Lesung in ihrem Büro, | |
„nämlich für die Nachbarn aus den Geschäften und Institutionen ringsum.“ | |
Stattdessen seien jedes Mal andere Leute gekommen, sagen sie. Und kaum je | |
habe einer der Gäste ein Mittagessen mitgebracht, wozu man doch so explizit | |
angehalten habe. „Erst heute haben sich wieder welche umgedreht, als ich in | |
meinen Apfel gebissen habe“, lacht Gelinek. Und dann sagt sie etwas sehr | |
Interessantes: dass es häufig dann besonders spannend werde, wenn etwas | |
nicht nach Plan klappt und ganz anders wird als erwartet. | |
## Im alten Westberlin verankert | |
Das Literaturhaus Berlin in der Charlottenburger Fasanenstraße inklusive | |
Buchhandlung und Café mit Jugendstil-Wintergarten ist eins von inzwischen | |
fünf Literaturhäusern in der Hauptstadt – und noch bis zum letzten Jahr war | |
es einer der schönsten Orte, an die man Schwiegereltern schleppen konnte, | |
wenn man ihnen bei einem gepflegten Kännchen Earl Grey erklären wollte, wie | |
ungemein geordnet und gutbürgerlich es im alten Westberlin mitunter zugehen | |
konnte. | |
Als das Haus 1986 vom Literaturwissenschaftler und Kritiker Herbert Wiesner | |
gegründet wurde, war der einzige Konkurrent in der Stadt das Literarische | |
Colloquium am Wannsee, noch eher ein Klubhaus als ein Ort für | |
Literaturveranstaltungen. Später, unter Lyriker Ernest Wichner, entwickelte | |
es sich zu einem Treffpunkt für Exilschriftsteller, und es konnte | |
vorkommen, dass man im Café Nobelpreisträgerin Herta Müller mit dem | |
chinesischen Autor Liao Yiwu beim Plaudern beobachten durfte. | |
„Als wir das Haus bekamen, war uns nicht klar, wie sehr es im alten | |
Westberlin verankert war“, sagt Janika Gelinek und erinnert sich an die | |
Veranstaltungen, die sich um den Prager Frühling und um die Umbruchsjahre | |
1968 und 1989 drehten und bei denen die Diskussionen besonders energisch | |
wurden. „Ich empfinde es als Herausforderung. Mehr noch: Es ist zu unserem | |
Material geworden“, fügt sie an, und Sonja Longolius ergänzt: „Das Haus | |
hilft uns, Spannung herzustellen.“ | |
## Türen stehen öfter offen | |
Inzwischen kommt zu den Veranstaltungen laut Aussage der beiden nur noch | |
etwa ein Drittel altes Stammpublikum, zwei Drittel waren vorher noch nie | |
dort. Es ist also gelungen, das Haus zu öffnen, das ganze, neue Berlin mit | |
seinen Bewohnern, die immer diverser und weitgereister werden, ins Haus zu | |
locken, ohne damit die Alten, die Angestammten und Verwurzelten zu | |
vergraulen – und beide Gruppen sogar ins Gespräch zu bringen. | |
Ein Reihe mit arabischer Literatur, eine Reihe, in der Autoren ihre | |
liebsten Platten vorstellen und sich hierfür auch mal so frisieren wie | |
Morten Harket von der norwegischen Band a-ha, Veranstaltungen für Kinder | |
und Jugendliche, die zwanzig Jahre Harry Potter feiern, eine lange, | |
entgrenzte Nacht für „Tristram Shandy“, ein übergeschnappter Abend für | |
Madame Nielssen, eine neue Abkürzung namens LiBe und zwei Chefinnen, die in | |
jeder Situation ebenso gut gelaunt wie streitlustig daherkommen: Vieles | |
nehmen Gelinek und Longolius für selbstverständlich, was im deutschen | |
Literaturbetrieb lange Jahre etwas Besonderes war. Zum Beispiel, dass sich | |
zwei Frauen einen anstrengenden Job teilen, damit Zeit für die Familie | |
bleibt, dass sie natürlich unbefangen Dinge ausprobieren und sich ebenso | |
natürlich höflich für die Tipps bedanken, wenn doch mal wieder ein | |
Bescheidwisser auftaucht: Das ist das eine. | |
Das andere, was daraus folgt: Das Literaturhaus wirkt heute wirklich nicht | |
mehr so elitär verschlossen wie früher, man hat keine Schwellenangst mehr. | |
Früher waren da die Hürden: Zaun, Garten, verschlossene Tür, dunkler Flur. | |
Heute gibt es noch immer Hürden, aber die Türen stehen jetzt viel öfter | |
sperrangelweit offen, und im Flur schwebt ein weißer Elefant. | |
## Viele Ideen im Raum | |
Zwei Wochen nach der Erasmus-Lesung gibt es einen Abend für Annette | |
Droste-Hülshoff, Autorin der „Judenbuche“. Auf dem Podium sitzen drei | |
DiskutantInnen, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten: die stets | |
pointierte Karen Duve, die in ihrem Roman „Fräulein Nettes kurzer Sommer“ | |
2018 [3][eine ganz andere Droste zeigt], als man sie kennt – nicht | |
kränklich und kurzsichtig, eher vital und witzig. Die immer verträumt | |
wirkende Zsuzsa Bánk, der es in ihrem Roman „Schlafen werden wir später“ | |
aus dem Jahr 2017 eher um die Wiederbelebung des hohen Tons ging, mit dem | |
man sich um 1800 Briefe schrieb. Und schließlich der Droste-Forscher Jochen | |
Grywatsch, der seinen Gegenstand eher nüchtern betrachtet. | |
Es ist absolut toll, was dabei herauskommt. Auch wenn bei der Veranstaltung | |
hauptsächlich ergraute Damen zuhören, fliegen viele Ideen durch den Raum. | |
Ideen, wie sie nur durch Reibung, durch den Zusammenprall unterschiedlicher | |
Welten entstehen können. | |
Ach übrigens: Mit dem weißen Elefanten hat es etwas auf sich, auch das | |
passt super zum neuen Haus, das seit einem Jahr so frisch und aufgeweckt | |
daherkommt, so überhaupt gar nicht mehr wie das alte Westberlin. Vor seiner | |
Zeit als Literaturhaus wurde das Gebäude nämlich als Disko und Bordell | |
genutzt. In den 1960er Jahren bekam es mal ziemlich schlechte Presse, weil | |
ein junger Elefant bei einer Stripshow mitmachen musste. Wenig später starb | |
er an einer Lungenentzündung. | |
9 Mar 2019 | |
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## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
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