| # taz.de -- Leben ohne Aufenthaltserlaubnis: Von Duldung zu Duldung | |
| > Roma leben in Deutschland oft ohne Bleibeperspektive. Was das mit einem | |
| > macht, zeigt die Geschichte von Tereza Adzovic aus Hamburg. | |
| Bild: Tereza Adzovic auf einem Bauspielplatz in Hamburg. Sie hat Angst, dass ih… | |
| Hamburg taz | Als Dovani Ahmetovic seinen Pass wieder ausgehändigt bekam, | |
| war darin ein fetter Stempelabdruck: „Rückführung“. Das war um sechs Uhr | |
| morgens am 3. August bei Familie Ahmetovic zu Hause in Bahrenfeld. Die | |
| Beamt*innen nahmen den Familienvater direkt mit. Seine Frau, Tereza | |
| Adzovic, hatte die Beamt*innen gebeten, leise zu sein, um die Kinder | |
| nicht noch mehr zu ängstigen. Dann habe das Paar in der Küche noch eine | |
| letzte Zigarette geraucht und einen Kaffee zusammen getrunken, erzählt | |
| Adzovic. Von seinen Kindern durfte Ahmetovic sich nicht mehr verabschieden. | |
| Tereza Adzovic sitzt auf einem Bauspielplatz in Bahrenfeld, sie hat einen | |
| Stapel Dokumente in der Hand und weiß, wie schon oft in ihrem Leben, nicht | |
| weiter. „Warum macht [1][die Ausländerbehörde] das?“, fragt die 46-Jähri… | |
| Neben ihr auf einem alten Sofa sitzen ein Erzieher und eine | |
| Sozialpädagogin, die auf dem Bauspielplatz arbeiten. Sie haben Kaffee, | |
| Wasser, Schokolade und Bananen auf einen kleinen, selbst gezimmerten Tisch | |
| gestellt. Aber Antworten haben sie nicht. | |
| Adzovic ist Romni, sie wurde in Italien geboren und lebt seit zehn Jahren | |
| in Deutschland. Als sie jünger war, war sie immer auf der Durchreise, in | |
| Frankreich, Spanien, Portugal. „Mein Zuhause war die Straße“, sagt sie. | |
| Aber: „So ein Leben ist schwierig. Für meine Kinder will ich das nicht.“ | |
| Sie streckt ihr Gesicht in die spätsommerliche Sonne und überlegt kurz. | |
| Dann formuliert sie es um: „Ich lasse es für meine Kinder nicht zu.“ | |
| Vor über 20 Jahren kam Adzovic zum ersten Mal nach Deutschland. Im | |
| Krankenhaus Barmbek wurde ihr ältester Sohn Lukas geboren. Als er vier | |
| Jahre alt war, wurden er und sein Vater [2][nach Montenegro] abgeschoben. | |
| Adzovic packte ihre beiden kleinen Töchter ein und reiste hinterher, um | |
| Mann und Sohn zurückzuholen. 2011 waren sie wieder in Hamburg. | |
| ## Der unsichere Aufenthaltsstatus wird vererbt | |
| Geschichten wie die von Adzovic können in Deutschland viele Menschen | |
| erzählen, vor allem viele Roma. Ein Leben mit Kettenduldungen sei in der | |
| Community normal, sagt Victor von Doom vom Bundes-Roma-Verband: „Eine ganze | |
| Generation junger Roma bekommt den unsicheren Aufenthaltsstatus ihrer | |
| Eltern vererbt. Diese jungen Menschen sind faktische Inländer – aber sie | |
| werden über Jahre, gar Jahrzehnte nur ‚geduldet‘.“ | |
| Das Leben in permanenter Unsicherheit habe oft schwerwiegende psychische | |
| Folgen wie Schlaflosigkeit, Ängste, Konzentrations- und | |
| Lernschwierigkeiten. Unter diesen Bedingungen erfolgreich eine Schule | |
| abzuschließen, gelinge nur wenigen. Das Schulversagen werde dann wiederum | |
| als mangelnde Integration gewertet, die sich negativ auf die | |
| Aufenthaltsperspektiven auswirke. „So entsteht ein Teufelskreis“, sagt Von | |
| Doom. Der Bundes-Roma-Verband mit Sitz in Göttingen setzt sich seit Jahren | |
| für ein Bleiberecht für Roma in Deutschland ein. | |
| In Montenegro, wo der Mann von Tereza Adzovic ist, könne es auch schön | |
| sein, sagt sie: „Wenn man Geld hat.“ Ihr Mann habe dort aber nichts: keine | |
| Wohnung, keine Verwandten, keine Freund*innen, keinen Job. Viele Roma | |
| lebten deshalb im Ghetto, sagt Adzovic. Die medizinische Versorgung sei | |
| katastrophal, [3][ohne Geld bekomme man keine Impfung], Kinder würden zu | |
| Hause geboren, „wie vor 300 Jahren“, sagt sie. Seit ihr Mann weg ist, könne | |
| sie nicht schlafen, ihr Sohn Lukas auch nicht. Er hat als Einziger in der | |
| Familie nur eine Duldung, keinen richtigen Aufenthaltsstatus. Er rede kaum, | |
| sagt sie, sei depressiv und orientierungslos. | |
| „Viele Kinder hier haben ähnliche Biografien und ähnliche Probleme“, sagt | |
| Philipp Zang, der als Erzieher auf dem Bauspielplatz arbeitet. Auf dem mit | |
| Gras und Büschen bewachsenen Grundstück stehen bunt angemalte Holzhütten, | |
| Klettergerüste und aus Brettern zusammengebastelte Unterstände. Der | |
| Vormittag ist die ruhigste Zeit des Tages, ab mittags kommen zwischen 30 | |
| und 80 Kinder dorthin. Viele von ihnen leben wie Familie Ahmetovic in den | |
| angrenzenden Sozialbauten, oft zu sechst in einer kleinen Wohnung. | |
| Auf dem Bauspielplatz bekommen sie weder Hausaufgabenhilfe noch ein warmes | |
| Essen, dafür fehlen wie so oft in der offenen Kinder- und Jugendarbeit das | |
| Geld und die Kapazität. Aber sie können spielen, toben, die Probleme zu | |
| Hause für einen Nachmittag vergessen. Was sagt Zang ihnen, wenn sie wie | |
| Tereza Adzovic Fragen stellen, auf die es keine Antworten gibt? „Dass ich | |
| es nicht weiß“, sagt der Erzieher. „Und dass es nichts nützt, den Mut zu | |
| verlieren. Dass sie weiterkämpfen müssen.“ | |
| Suada Adzovic hat in ihrem Leben auch viel gekämpft, aber manchmal wollte | |
| sie sich vergiften oder von einer Brücke springen, sagt die 46-Jährige. | |
| Suada und Tereza sind Cousinen, auch sie wohnt in den heruntergekommenen | |
| Flüchtlingswohnungen nebenan, schon seit 18 Jahren. Als im Kosovo der Krieg | |
| ausbrach, versteckte Suada Adzovic sich mit ihren drei Kindern monatelang | |
| im Wald, bevor ihnen die Flucht gelang. | |
| ## Immer nur die nächste Duldung – und Angst | |
| In Hamburg lebte die Familie ein halbes Jahr lang auf dem berüchtigten | |
| Flüchtlingsschiff „Bibby Altona“. Nach drei Monaten wurde ihr damals | |
| 76-jähriger Vater nach Montenegro abgeschoben. „Einen Monat später war er | |
| tot“, sagt Suada Adzovic. Er sei auf einer Matratze auf der Straße | |
| gestorben. Sie bekam in Hamburg drei weitere Kinder, aber keinen | |
| Aufenthalt, auch nicht für die in Deutschland geborenen. „Immer nur | |
| Duldung, Duldung, Duldung“, sagt sie. „Und Angst.“ | |
| Angst hat Tereza Adzovic hauptsächlich um ihren Sohn Lukas. Er ist das | |
| einzige ihrer Kinder, das nicht auf den Bauspielplatz kommt. Als er 17 war, | |
| habe sie eine Ausbildung für ihn gesucht, erzählt Adzovic. Sie habe auch | |
| beim Arbeitsamt nachgefragt, aber immer habe es geheißen: „Tut mir leid, | |
| ohne Aufenthalt können wir ihn nicht nehmen.“ Eine Ausbildung könnte der | |
| Schlüssel zu einem Aufenthaltstitel in Deutschland sein. Aber vielen | |
| Betrieben ist es zu unsicher, jemanden zu beschäftigen, der vielleicht von | |
| heute auf morgen nicht mehr kommen kann. | |
| Dovani Ahmetovic hat mit seiner Abschiebung eine Wiedereinreisesperre für | |
| drei Jahre bekommen. Dagegen will Tereza Adzovic mit einem Anwalt vorgehen. | |
| Woraus schöpft sie Hoffnung? Sie schließt die Augen, hält ihr Gesicht | |
| nochmal in die Herbstsonne und überlegt. Dann sagt sie: „Ich habe viele | |
| Länder gesehen und mich entschieden, hier zu leben. Ich will das für meine | |
| Kinder.“ | |
| Das ist zwar noch nicht unbedingt ein Hoffnungsschimmer, aber immerhin | |
| etwas, wofür es sich zu kämpfen lohnt. | |
| 16 Sep 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katharina Schipkowski | |
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