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# taz.de -- Leben in zerstörter Ukraine: Sag mir, wo die Blumen sind
> Im Norden Charkiws leben Menschen zwischen Trümmern und Lagerfeuern. Der
> Krieg treibt viele in den Wahnsinn. Was bleibt nach der Zerstörung?
Charkiw taz | Sergei ist total hacke. Mit einem Bündel Zwiebeln in der Hand
lehnt er sich an die Wand und erzählt von seiner Familie, die nach
Deutschland geflohen ist, und davon, dass er sich nun alleine zurechtfinden
muss. Von seiner Arbeit mit dem großen Bagger, mit dem er für die Soldaten
einen Schützengraben ausgehoben hat. Von dem Artilleriegeschoss, das ihn
dabei fast ums Leben gebracht hätte. Von dem sicheren Sieg, von der großen
ukrainischen Nation. Und von dem Stress, der Angst, dem Leid, die bei über
80 Tagen Dauerbeschuss entstehen.
Warum er nicht geht? „Wohin denn? Das ist mein Zuhause! Ich bin nicht der,
der gehen muss, die anderen müssen abhauen.“ Sergei lallt. Die anderen,
damit meint er die russische Armee, die aus seiner Heimat, dem Stadtviertel
Saltiwka im Norden Charkiws, [1][eine Hölle auf Erden] gemacht hat. Kein
Straßenzug ist hier unberührt vom Krieg. Überall liegen Trümmer, Überreste
von Raketen und Schrapnells, überall klaffen Löcher in den Häuserwänden,
manchmal fehlt das halbe Haus. Ausgebrannte Autos stehen an den Straßen.
Spaziergänger müssen um riesige Krater herumlaufen. Es gibt seit
Kriegsbeginn keinen Strom mehr und kein Gas.
Deshalb kochen die verbleibenden Bewohner von Saltiwka draußen, auf der
Straße. Auch an diesem sonnigen Sonntag im Mai haben sich die Bewohner der
Straße Drushba Narodiw (Völkerfreundschaft) vor der Hausnummer 255
versammelt. Auf dem Tisch liegen Kartoffeln, Öl, Tee und Plastikteller. Es
brennt ein kleines Feuer, das Holz haben die Leute einfach von der Straße
aufgesammelt. Äste liegen überall im Viertel verstreut, durch die
Explosionen von den Bäumen abgerissen.
Während der 54-jährige Sergei erzählt, singt sein Nachbar Witali, der
mindestens genauso einen im Tee hat. Zuerst eine verblüffend gute Version
des Chansons „Sag mir, wo die Blumen sind“ von Marlene Dietrich, dann
irgendein Lied des US-Künstlers Everlast. Er schwankt hin und her, während
er versucht, die Teekanne aus dem Feuer zu holen.
„Ich brauch Hugo Boss“, klagt Witali, der mit schwarz-weißer Schiebermütz…
Sonnenbrille und Lederschuhen auch in der Hölle des Krieges offensichtlich
einigen Wert auf sein Aussehen legt. „Ich brauch Hugo Boss, ich brauch
Lacoste“, legt er nach. Er hat sich mittlerweile einen Ofenhandschuh
angezogen und die Teekanne nun sicher aus den Flammen geholt. Dann schwankt
er zum Tisch, schenkt ein. Die Hälfte geht daneben, zum Glück interessiert
das hier sowieso niemanden.
Was wie Slapstick wirkt, wie Charlie Chaplin nach einer Pulle
Selbstgebranntem, hat einen bitteren Beigeschmack. Sergei, Witali, ihr
stiller Sitznachbar und alle anderen, die vorbeilaufen, wirken vollkommen
verwahrlost. Zwei Frauen fangen an, sich laut zu streiten. „Du Fotze, du
hast meine Wohnung geklaut“, brüllt die eine. „Halt den Mund, du Schlampe�…
sagt die andere. Die erste greift nach einer Plastikkiste und geht auf die
zweite los. Das ganze passiert wie in Zeitlupe. Denn auch diese beiden sind
so betrunken, dass sie kaum stehen können.
Stillschweigend schleppen andere Bewohner Wasserkanister vom Brunnen in ihr
Zuhause oder das, was davon übrig ist. Den Streit zwischen den beiden
würdigen sie keines Blickes. Auch Sergei erzählt einfach weiter, Witali
singt wieder. Die Menschen hier haben Unvorstellbares durchgemacht, und was
die Zukunft bringt, wissen sie auch nicht.
Seit über 80 Tagen herrscht Krieg in der Ukraine, nachdem am 24. Februar
die russische Armee unter dem Deckmantel einer sogenannten Spezialoperation
das flächenmäßig größte Land Europas überfiel. Angeblich wolle man den
russischsprachigen Bevölkerungsteil befreien und beschützen, vor einem
faschistischen Regime, das die Menschen unterdrücke und gar töte. Die
Realität sieht anders aus. „Hier tötet nur einer, und zwar die Russen“,
sagt Sergei.
Wie viele Menschen noch in Saltiwka geblieben sind, weiß er nicht. Es gibt
auch keine offizielle Statistik. 10–20 Prozent, schätzt Sergei. Auch, wie
viele Menschen in Saltiwka ihr Leben gelassen haben, kann er nicht sagen.
Die Regierung sprach am 18. Mai von 606 getöteten Zivilisten in der
gesamten Stadt – darunter 26 Kinder. Vor dem Krieg lebten über 400.000
Menschen in dem Viertel, das aus vier Teilen besteht.
Nord-, Süd- und Ostsaltiwka sind klassische „Schlafviertel“, wie man auf
Russisch sagt. Sie bestehen ausschließlich aus sowjetischen Wohnblocks,
viel mehr als schlafen und einkaufen kann man nicht machen. Dafür sind die
Mieten günstig. Der vierte Teil Saltiwkas im Westen besteht aus kleinen
Einfamilienhäusern, doch auch diese sind nicht vom Krieg verschont worden.
Viele Häuser werden nach dem Krieg abgerissen werden müssen, doch an
[2][den Wiederaufbau] denkt hier wohl noch niemand.
Nach dem Abzug der russischen Truppen im Norden des Landes und um die
Hauptstadt Kiew herum, Anfang April, wurde die zweitgrößte Stadt des
Landes, Charkiw, zum nördlichsten Frontpunkt – und Schauplatz heftiger
Kämpfe. Saltiwka ist ein perfektes Beispiel für die perfide
Zermürbungstaktik der russischen Armee. In dem Stadtviertel befand sich bis
vergangene Woche kein strategisches Militärobjekt. Einzig an der
Zufahrtsstraße zu dem Viertel war ein spärlich besetzter Checkpoint.
Trotzdem wird das Viertel täglich unter Beschuss genommen: durch
Artillerie, durch Raketen und bis vor ein paar Tagen auch durch Panzer, die
nur wenige Hundert Meter vor der Stadtgrenze standen. „Schaut euch das an“,
sagt Witali, „sie haben einfach auf die Häuser gezielt, einfach nur drauf.“
Für einen kurzen Moment hält er inne, dann greift er zur Weinflasche und
nimmt einen großen Schluck.
Doch trotz aller Brutalität bleiben die russischen Erfolge begrenzt. Die
Stadt hält nicht nur stand, sondern ist seit ein paar Wochen auch
Schauplatz einer spektakulären Gegenoffensive. Teilweise konnten die
russischen Soldaten bis an die Landesgrenze zurückgedrängt werden.
Unterstützt wird die ukrainische Armee durch eine große Anzahl freiwilliger
Kämpfer, die sogenannten territorialen Verteidigungskräfte.
Dazu hat das rechtsoffene Asow-Regiment, das spätestens durch den
Widerstand in der südlichen Stadt Mariupol auf der ganzen Welt bekannt ist,
mehrere Tausend Kämpfer in Charkiw. Ihren eigenen Spezialkräfte, die
„Kraken“, werden in der Stadt mit überdimensionalen Graffitis gewürdigt.
Seit die Ukrainer wieder die Ortschaft Tsyrkuny kontrollieren, etwa fünf
Kilometer nördlich von Saltiwka, ist es etwas ruhiger. Seitdem sind in dem
Viertel auch viele ukrainische Soldaten zu sehen. Das Militär hat das
Viertel zweigeteilt. Die nördlichsten Straßenzüge sind Zivilisten nicht
mehr zugänglich. Links und rechts von den Hauptstraßen haben sie
Schützengräben ausgehoben und lebensgroße Puppen als Soldaten verkleidet.
Attrappen, die mögliches feindliches Feuer von den echten Soldaten ablenken
sollen.
„Vorsicht Minen“ steht auf einer kleinen Fußgängerbrücke auf einem Schil…
Ein Soldat bewacht das gelbe Gitter. Er ist aus Kiew hierhin versetzt
worden. „Alles unter Kontrolle, und Fotos sind kein Problem. Nur passieren
darf keiner“, sagt er bestimmt. Witali und die anderen vermuten hinter den
Straßensperren, die seit ein paar Tagen aus dem Nichts entstanden sind,
einen anderen Grund. „Die haben da nun Kanonen und weiteres hingestellt“,
sagt er. Tatsächlich sind weiterhin fast ununterbrochen Kämpfe zu hören.
Manchmal leise, manchmal sehr laut. Schwarze Rauchsäulen bahnen sich am
Horizont ihren Weg nach oben. „Keine Sorge, das sind unsere Jungs, das geht
raus“, sagt eine Frau im Vorbeigehen nach einem heftigen Knall.
„Hier ist jeder Experte für Krieg“, sagt Witali. Ein paar Meter neben der
Feuerstelle haben die Bewohner auf einem Baumstumpf Teile von Raketen
gesammelt und ausgestellt. Witali nennt es „das Museum“.
Ein paar Hundert Meter von der trinkenden und kochenden Truppe entfernt
sitzt Lew Genadijowitsch, 84 Jahre alt, auf einer Bank. Er hat
purpurfarbene Pantoffeln an und liest alte Zeitschriften aus dem Jahr 2006.
Ganz sanft und zart streichelt er eine verschmutzte Katze, die ihre besten
Tage wohl hinter sich hat. Beim Erzählen muss er weinen. „Wie ich bislang
überlebt habe, weiß ich nicht“, sagt er. Der Hauseingang, neben dem er
sitzt, ist komplett zerstört. „Lyudi“, „Menschen“, steht auf Russisch …
die rote Haustür geschrieben.
Saltiwka wirkt wie eine Zwischenwelt: Überall Zerstörung, überall Spuren
der Gewalt, und trotzdem leben die Menschen hier weiter. Vor ihren Häusern
kochen sie, sägen Holz, holen Wasser vom Brunnen oder genießen an diesem
warmen Tag im Mai die Sonnenstrahlen. Lew Genadijowitsch liest seine alte
Zeitschrift schon zum vierten Mal. Ansonsten vertreibt er sich die Zeit
damit, dass er einen Besen zur Hand nimmt und die unzähligen Glassplitter
von der Straße fegt. Von der Regierung fühlt er sich im Stich gelassen.
„Jetzt, wo es ruhiger ist, sind die Soldaten da und machen einen auf
wichtig“, sagt er. „In den schlimmsten Tagen war hier niemand.“
Er hat seit drei Monaten seine Rente nicht ausgezahlt bekommen. Oft hat er
bei der Regierung angerufen, doch niemand konnte ihm helfen, sagt er. Er
lebt von Lebensmittelspenden, die Freiwillige in das Stadtviertel bringen.
In zwei Plastiktüten, die neben ihm auf der Bank liegen, hat er ein paar
Konserven und etwas Zucker. Funktionieren, aber nicht leben, so beschreibt
der Rentner und ehemalige Physiker seinen Zustand.
Dass es bereits über 80 Tage Krieg sind, dass laut Angaben der Vereinten
Nationen mindestens 3.600 Zivilisten und viele weitere Tausende Soldaten
auf beiden Seiten gestorben sind, dass es momentan so aussieht, als würde
sich der [3][Krieg an einer verhärteten Front im Süden und Osten des Landes
wohl noch lange hinziehen], weiß er nicht. Er hat nur ein altes Handy, das
er ab und zu bei den freiwilligen Helfern, die ihm Essen bringen, laden
kann.
Doch obwohl ihm die meisten Zähne fehlen und er in bitterer Armut lebt,
merkt man, dass Lew Genadijowitsch ein hochgebildeter Mann ist, dem
zwischen Spuren der Verwüstung messerscharfe Analysen entweichen. „Wer
bleibt denn bitte in so einer Situation zurück? Wer bleibt denn in
Saltiwka?“, sinniert er. „Es sind die Armen, die Schwachen, die Alten und
die Verrückten. Die, die es schon vor dem Krieg schwer hatten.“ Der
Eindruck auf den Straßen des Viertels bestätigt seine Worte.
Wer konnte, oder wer nicht extrem stur war, der ist geflohen, zumindest in
andere Stadtteile, jene, die außerhalb der Reichweite der Panzer und
Artillerie sind. Nur wenige Kilometer entfernt, in der Innenstadt, ist es
vergleichsweise sicher. In den U-Bahnstationen gibt es gratis Schlafplätze,
Decken, Suppen und Strom. Doch Leute wie Sergei, wie Witali und Lew bleiben
lieber in „ihrem“ Saltiwka.
Zu jenen, die während der täglichen Bombardements woanders Schutz gesucht
haben, gehört auch Witali, ein 34-jähriger Ladenbesitzer, der an diesem
Sonntag versucht aus seinem Geschäft zu retten, was noch zu retten ist. An
der Hauptstraße am nördlichsten Stadtrand von Saltiwka hat er über acht
Jahre lang Handys und andere Elektronik repariert und verkauft.
Auf dem Parkplatz sind metertiefe Krater, wie durch ein Wunder steht sein
Laden noch da. Die Scheiben sind zersprengt. Die Plakate zerrissen. Sein
Inventar liegt überall verstreut. Er durchwühlt den Schutt. Ein Handy hier,
ein Bildschirm da. Er holt alles, was noch funktionieren könnte, heraus und
lädt es ins Auto. Er hat es eilig, besorgt blickt er auf die schwarzen
Rauchsäulen ein paar Kilometer entfernt. Ob er den Laden neu aufbauen will?
„Weiß ich nicht.“ Vielleicht an einer anderen Stelle? „Weiß ich nicht.�…
er überhaupt in Charkiw bleiben möchte? „Keine Ahnung.“ Wie viele Kinder …
habe? „Drei. Aber was aus ihnen werden soll, weiß ich nicht.“
Noch bevor der Krieg vorbei ist, kommt bei vielen die Frage nach dem Danach
auf. Es ist eine Frage, auf die die wenigsten eine Antwort haben. Denn die
Ukrainer um Charkiw gewinnen zwar an Land zurück, doch der Krieg ist noch
längst nicht vorbei. Am Tag nach Sergeis und Witalis Saufgelage gab es
erneut einen Einschlag in ein Wohnhaus in Saltiwka. Ukrainische Kämpfer und
die russische Armee liefern sich weiterhin Kämpfe am Stadtrand. Da mehrere
große Raffinerien des Landes angegriffen wurden, gibt es kaum Benzin.
Der Ladenbesitzer Witali hat zum Glück noch ein Auto. Als alles eingeladen
ist, fährt er wieder zurück in die Stadt. Sergei und seine Freunde dagegen
bleiben noch bis kurz vor Sonnenuntergang an ihrem Lagerfeuer. Dann gehen
sie langsam in ihre Wohnungen zurück, in denen es keinen Strom gibt. Von 21
Uhr abends bis 5 Uhr morgens herrscht Ausgangssperre. Am nächsten Tag
werden sich alle wiedertreffen und trinken, sagen sie sich. Saufen auf den
zerstörten Straßen ihrer Heimat, etwa 40 Kilometer von der russischen
Grenze, doch gefühlte Lichtjahre vom Frieden entfernt.
20 May 2022
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## AUTOREN
Philip Malzahn
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