Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Krieg in der Ukraine: Horror an verhärteten Fronten
> Die Kämpfe in der Ukraine sind zu einem blutigen Stellungskrieg mutiert.
> Russland steckt in der Defensive und verheizt sinnlos neue Rekruten.
Bild: Wagenladung für die Front: Russische Rekruten steigen im September in Wo…
Es ist ein seltener Einblick in den Horror an der Front in der Ukraine. 570
frische russische Soldaten trafen am 1. November in Makijiwka nahe der
russisch besetzten Stadt Swatowe ein – 41 von ihnen sind jetzt nach eigenen
Angaben noch übrig. Das Schicksal der anderen ist unklar, aber Mutmaßungen
der Überlebenden über 500 Tote bewogen ihre Verwandten am Samstag dazu, in
einem seltenen Protest vor das Justizgebäude der russischen Stadt Woronesch
zu ziehen und in einem Brief an den Gouverneur Gerechtigkeit zu fordern.
„Am Tag ihrer Ankunft hat man sie an die Front geschickt“, steht im
Schreiben, aus dem das russische Internetmedium verstka.media zitiert. Ein
Überlebender berichtet, sie sollten eigentlich nach der Ankunft aus
Russland erst mal 15 Kilometer hinter der Front versammelt werden.
Stattdessen wurde in der Nacht zum 2. November „das ganze Bataillon an die
Kontaktlinie geschickt und angewiesen, sich einzugraben und die Stellung zu
halten“. Dafür seien gerade mal drei Schaufeln zur Verfügung gestellt
worden. Die Offiziere seien weggefahren. Am Morgen trat die ukrainische
Artillerie in Aktion. Die russischen Rekruten waren führungs- und hilflos.
Drei Tage lang habe die „Schlacht“ gedauert, ohne Essen und ohne Schlaf.
Dann existierte das Bataillon nicht mehr.
Bestätigte Todeszahlen gibt es nicht. Russland lässt seine Toten meist
einfach liegen – wenn Gefallene in Zinksärgen zurückgeholt werden, sind
Entschädigungszahlungen der Armee an die Hinterbliebenen fällig. Aber
selbst wenn viele Soldaten einfach verwundet zurückblieben oder in
Gefangenschaft – die Berichte nähren das Unverständnis in Russland über die
Kriegsführung. Der Protest in Woronesch am Samstag war offenbar kein
Einzelfall. Bis zu 2.000 Soldaten sollen am Freitag laut sozialen Medien an
einer Demonstration in Kasan gegen die Zustände im russischen Militär
teilgenommen haben.
Die Front bei Swatowe ist intensiv umkämpft. Nachdem die ukrainische Armee
im September in einer spektakulären Offensive die russischen Besatzer
komplett aus dem Gebiet um die zweitgrößte ukrainische Stadt Charkiw und
die Frontstadt Isjum verdrängt hat, ist Swatowe ihr nächstes Ziel. Sie
sollen sich in den vergangenen Tagen der Straße von Swatowe nach Südosten
bis auf zwei Kilometer genähert haben und sie damit unter Beschuss halten.
Mit dem Fall von Swatowe, analysieren Experten, würde Russland wohl den
gesamten Norden des Gebiets Luhansk verlieren.
## Ohne Ausrüstung an die Front
Der Bericht aus Makijiwka ist ein eindrucksvolles Zeugnis davon, wie die
russischen Soldaten das im Feld erleben. Russische Soldaten werden mit nur
oberflächlichem Training und rudimentärer oder gar keiner Ausrüstung und
Versorgung an die Front geworfen, ohne Klarheit darüber, wo sie sind und
was sie tun sollen.
Intensiv umkämpft sind derzeit auch die Frontlinien direkt an der Stadt
Donezk, an deren westlichem Rand seit 2014 die „Kontaktlinie“ zwischen der
Ukraine und dem russisch besetzten Gebiet verläuft. Russland versucht
derzeit, mit verlustreichen Großangriffen die ukrainische Frontstadt
Awdijiwka einzunehmen. Dies folgt auf einen ähnlichen, letztlich
gescheiterten mehrwöchigen Versuch, die ukrainische Frontstadt Bachmut 50
Kilometer weiter nördlich zu erobern. Dabei soll die private russische
Söldnerfirma Wagner zahlreiche Kämpfer verloren haben, darunter viele aus
russischen Gefängnissen mobilisierte Häftlinge.
Einen strategischen Sinn hinter den Großangriffen auf Bachmut und Awdijiwka
vermögen Militärexperten nicht zu erkennen – es ist die alte russische
Strategie, ohne Rücksicht auf eigene Verluste Kilometer um Kilometer
vorzurücken, in einem mörderischen Stellungskrieg, in dem beide Seiten hohe
Verluste verzeichnen. Die vom Westen gelieferte Artillerie ermöglicht aber
der Ukraine, gezielt die russischen Versorgungslinien unter Beschuss zu
nehmen und die russischen Truppen an der Front von Nachschub abzuschneiden.
Russland antwortet darauf mit Raketen- und Drohnenangriffen auf die zivile
Infrastruktur in der gesamten Ukraine, was Terror verbreitet, aber die
Logistik des ukrainischen Militärs nur wenig stört.
Am erfolgreichsten war die ukrainische Strategie bislang im Gebiet Cherson
im Süden der Ukraine, die dritte intensiv umkämpfte Kriegsfront. Nachdem
die ukrainischen Truppen im Oktober die russischen Besatzer um bis zu 50
Kilometer zurückdrängten, hat das russische Militär jetzt offenbar den
Rückzug auf das südliche Ufer des Dnipro-Flusses eingeleitet und könnte
sogar im Begriff sein, die Stadt Cherson selbst aufzugeben.
Vergangene Woche wurde die russische Flagge vom zentralen
Verwaltungsgebäude in [1][Cherson] eingeholt. An diesem Wochenende zeigten
Videos aus dem Gebäude verwüstete Büroräume. Russische Einheiten haben neue
Verteidigungsstellungen am Südufer des Flusses errichtet.
„Die russische Strategie scheint darin zu bestehen, sich über den Winter zu
verteidigen und zu hoffen, die Kräfte durch Mobilisierung aufzufüllen“,
schrieb vergangene Woche der US-Militärexperte Michael Kofman. Derweil
bleibt unklar, welche Wirkung die in Russland [2][am 21. September
ausgerufene Mobilmachung] tatsächlich hat. Laut Verteidigungsministerium in
Moskau wurden bisher 300.000 Männer mobilisiert und davon 80.000 in die
Ukraine geschickt, die Hälfte an die Front.
Der unabhängige Expertenblog „Arestovych Broadcast“ berichtete am Sonntag,
es seien in Wahrheit nur 238.000 und weniger als die Hälfte davon sei
überhaupt im Militärdienst; der Rest warte in Mobilisierungszentren und
werde zunehmend unruhig angesichts von Nachrichten wie die aus Makijiwka.
6 Nov 2022
## LINKS
[1] /Russische-Truppen-bei-Cherson/!5890862
[2] /Teilmobilisierung-in-Russland/!5884723
## AUTOREN
Dominic Johnson
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Wladimir Putin
Russland
Drohnenkrieg
Donbass
GNS
Lesestück Recherche und Reportage
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Annalena Baerbock
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Lesestück Recherche und Reportage
## ARTIKEL ZUM THEMA
Millionenstadt in der Ukraine: Am Rande des Imperiums
Einst wurde Dnipro zum Ruhme von Russlands Zarin Katharina gegründet. Heute
schlagen russische Raketen in der viertgrößten Stadt der Ukraine ein.
Rückzug der russischen Armee aus Cherson: Verhandlungen sind abwegig
Die Ukraine hat die strategisch wichtige Stadt von den Besatzern
zurückerobert. Trotz militärischer Erfolge sind Rufe nach Verhandlungen
unangebracht.
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++: Russischer Rückzug aus Cherzon
Das russische Verteidigungsministerium hat am Mittwoch den Rückzug aus der
Stadt Cherzon angekündigt. Heftige Kämpfe gab es in der gleichnamigen
Region.
Treffen der G7-Außenminister:innen: Protest gegen russisches Uran
Umweltverbände protestieren gegen russische Brennstofflieferungen in
Münster. Zeitgleich findet dort die Außenminister:innenkonferenz
statt.
Angriffe auf ukrainisches Energiesystem: Strom- und Heizungsausfälle drohen
Russland nimmt seine Teilnahme am Getreideabkommen mit der Ukraine wieder
auf, währenddessen bereitet sich die Ukraine auf Stromausfälle vor.
Moskau und der Krieg in der Ukraine: Furchtbare neue Welt
Russlands Sommer der Verdrängung ist einem Herbst der Sorgen gewichen. Der
Krieg ist in jedes Wohnzimmer eingezogen. Die meisten Menschen nehmen es
hin.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.