# taz.de -- Krankenhausmanager über Reform: „Wir müssen radikaler denken“ | |
> Der Gesundheitsökonom Reinhard Busse hält 800 von 1.400 deutschen | |
> Kliniken für verzichtbar. Auch in Zeiten der Coronapandemie. | |
Bild: Von weniger Betten und weniger Krankenhäusern erhofft Reinhard Busse sic… | |
taz: Herr Busse, nach milliardenschweren Coronahilfen für Krankenhäuser im | |
Frühjahr pumpt der Bund weitere drei Milliarden Euro in die Kliniken: für | |
Notfälle, Digitalisierung und IT-Sicherheit. Ist dieses Geld klug | |
investiert? | |
Reinhard Busse: Wir müssen die Krankenhäuser fit machen für | |
Digitalisierung, aber nicht nur sie. In anderen Ländern übermitteln | |
Rettungswagen das EKG des Patienten bereits von unterwegs an die Klinik, | |
das funktioniert bei unserer Funkfrequenz und Sendemastendichte nicht. Für | |
eine kluge Investition müssten mehr Akteure eingebunden werden. Das größere | |
Problem aber ist, dass wir das Geld mit der Gießkanne verteilen. So geht es | |
an Häuser, die wir nicht mehr als Krankenhäuser brauchen. | |
Gerade unter Corona hat sich doch gezeigt, wie hilfreich eine gewisse | |
Überkapazität an Kliniken sein kann? | |
Nein, das ist Unsinn. Dass wir bislang gut durch die Krise gekommen sind, | |
liegt nicht primär an den Krankenhäusern. Ich bin im Beirat des | |
Bundesgesundheitsministeriums, der das Covid-Krankenhaus-Entlastungsgesetz | |
evaluiert. Wir haben uns die Daten angeguckt bis Ende Mai. Bis dahin waren | |
34.000 Covidpatienten stationär im Krankenhaus; die testpositiven | |
Fallzahlen lagen damals bei 175.000. Die Krankenhäuser haben sich also – | |
zum Glück – nur um ein Fünftel der Patienten gekümmert. 80 Prozent sind gar | |
nicht ins Krankenhaus gegangen. | |
Dennoch wünscht man sich nicht, in Italien, Spanien oder Frankreich | |
hospitalisiert zu sein. | |
Die stationäre Behandlung in Deutschland war nicht besser als die in | |
Frankreich. Von allen Covidpatienten, die in Deutschland im Krankenhaus | |
behandelt wurden, sind 22 Prozent verstorben; exakt so viele wie in | |
Frankreich auch. | |
Bilder von [1][überfüllten Intensivstationen wie in Italien], wo | |
verzweifelte Ärzte Patienten sterben lassen mussten, weil sie nicht alle | |
beatmen konnten, hat es bei uns nicht gegeben. | |
Das war nicht in ganz Italien, das war in der Lombardei. Die hat den Fehler | |
gemacht, nicht auf die Strategie von etwa Norwegen, Dänemark oder | |
Deutschland zu setzen: Unser Erfolgsrezept bestand darin, Verdachtsfälle | |
außerhalb von Krankenhäusern zu testen und testpositive Patienten so lange | |
wie möglich ambulant zu behandeln, sie eben rauszuhalten aus den | |
Krankenhäusern, wo ein hohes Infektionsrisiko herrscht. | |
Sie werfen den Kliniken vor, dass Patienten sich erst dort mit dem Virus | |
infiziert hätten? | |
Teilweise, etwa in einem Krankenhaus in Potsdam, ist dies geschehen. 47 | |
Personen sind dort an oder mit Covid gestorben, aber nur drei waren wegen | |
Covid aufgenommen worden. Ich halte das für einen Skandal – der zum Glück | |
sehr selten war. Ein Riesenfehler war auch, dass die Deutsche | |
Krankenhausgesellschaft, aber auch viele Landesgesundheitsminister gesagt | |
haben: Jedes Krankenhaus kann Corona behandeln. Da haben Krankenhäuser | |
Covidpatienten aufgenommen, obwohl sie sie gar nicht beatmen konnten. Jeder | |
Vierte aus der Gruppe der stationär Behandelten wurde dann in ein anderes, | |
zumeist größeres Krankenhaus verlegt. Man hätte den Patienten dies ersparen | |
können, hätte man sie gleich in Krankenhäusern mit Intensivabteilung | |
zentralisiert. | |
Vielleicht fehlte anfangs die Erfahrung? Eine Pandemie kommt nicht alle | |
Tage vor. | |
Ach was. Unter Corona hat sich bloß fortgesetzt, was ich seit Jahren | |
beklage: Wir verteilen Patienten auf viel zu viele Häuser, die für eine | |
adäquate Versorgung weder technisch noch personell ausgestattet sind. | |
Sie haben deswegen kürzlich in einer Studie für die Bertelsmann-Stiftung | |
gefordert, mehr als jedes zweite [2][Krankenhaus zu schließen]. | |
Richtig, 800 von 1.400 Kliniken in Deutschland sind verzichtbar. Dabei geht | |
es mir weniger um die Schließung als darum, wie das Krankenhaus der Zukunft | |
aussieht. Nehmen wir die Herzinfarkte. Jeden Tag bekommen 500 Menschen in | |
Deutschland einen Herzinfarkt. Wir verteilen diese Menschen auf 1.300 | |
Krankenhäuser. Das durchschnittliche Krankenhaus hat aber erstens keinen | |
Herzkatheter und zweitens keinen Kardiologen, der rund um die Uhr da ist. | |
Drittens hat es zu wenig Erfahrung. Bei Schlaganfällen verhält es sich | |
ähnlich, und beim Bauchspeicheldrüsenkrebs ist die Situation unhaltbar. | |
Warum genau? | |
Wissen Sie, wie viele Krankenhäuser weniger als zehn komplexe Eingriffe an | |
der Bauchspeicheldrüse – im Jahr – vornehmen? Fast 100! Die Sterblichkeit | |
dort ist doppelt so hoch wie in Häusern mit 50 Fällen. | |
Für manche Erkrankungen existiert bereits die Regelung, dass eine Klinik | |
eine Mindestmenge nachweisen muss, um sie zu behandeln. | |
Ja, wie bei den Bauchspeicheldrüseneingriffen. Dort liegt die Mindestmenge | |
bei zehn – und wird hundertfach nicht eingehalten. Wir müssen diese | |
Regelungen umsetzen und auf andere Krankheiten ausweiten. Wenn jedes | |
Krankenhaus mindestens einen Herzinfarktpatienten pro Tag sehen soll, | |
brauchen wir höchstens 500 Häuser. Für mehr haben wir nicht genug | |
Patienten. Und um sie muss es doch gehen! | |
Bei Herzinfarkten zählt jede Minute. Der Patient muss das Krankenhaus | |
schnell erreichen können. Wie soll das gehen, wenn es nur noch wenige | |
zentralisierte Kliniken gibt, mit entsprechend längeren Anfahrtswegen? | |
Wie sieht es denn heute aus? Sie sind in der Nähe eines kleinen | |
Krankenhauses. Der Rettungswagen fährt Sie dorthin, außerhalb der normalen | |
Arbeitszeit. Dann kommt ein Assistenzarzt. Der ruft seinen Oberarzt, der | |
ist Facharzt. Und der darf sich laut Richtlinie des Gemeinsamen | |
Bundesausschusses 30 Minuten Zeit nehmen, um ins Krankenhaus zu kommen. | |
Wäre der Rettungswagen weitergefahren in ein Krankenhaus wie beispielsweise | |
in Dänemark, das personell besser ausgestattet ist und wo Fachärzte rund um | |
die Uhr einsatzbereit sind, dann begänne die Behandlung tatsächlich, sobald | |
die Tür an der Notaufnahme aufgeht. | |
Woher soll dieses zusätzliche Personal kommen? Ärzte und Pfleger arbeiten | |
schon heute jenseits der Belastungsgrenze. | |
Wir haben mehr Pflegepersonal als jedes andere EU-Land außer Finnland, | |
bezogen auf die Einwohnerzahl. Dass wir gleichzeitig am anderen Ende der | |
Skala liegen, was die Anzahl an Pflegekräften bezogen auf die Patientenzahl | |
angeht, liegt daran, dass die Deutschen viel mehr im Krankenhaus sind. Bei | |
uns verbringt jeder Einwohner im Schnitt 1,7 Tage pro Jahr im Krankenhaus, | |
in Dänemark nur 0,7 Tage. Bei gleich viel Pflegepersonal haben die Dänen | |
also zweieinhalb Mal so viele Pfleger am Bett wie wir. | |
Was läuft schief? | |
Wie halten zu viele Kapazitäten bereit und bezahlen Krankenhäuser nur, wenn | |
sie Patienten behandeln. Nur ein belegtes Bett bringt Geld. Also werden die | |
Betten vollgemacht. In Deutschland liegt die Wahrscheinlichkeit, dass | |
Ihnen, wenn Sie zur Notaufnahme gehen, geraten wird, im Krankenhaus zu | |
bleiben, bei 50 Prozent. In anderen Ländern liegt sie bei 25 Prozent. Dabei | |
sind wir nicht kränker als etwa die Dänen. | |
Sie unterstellen den Kliniken, dass sie die Fallzahlen künstlich nach oben | |
treiben? | |
Operationen wie beispielsweise Grauer Star oder Leistenbrüche, die man | |
ambulant durchführen könnte, werden bei uns zu häufig stationär gemacht. | |
Ein Krebspatient wird bei uns durchschnittlich viermal stationär behandelt, | |
in den Nachbarländer nur zweimal. Unsere Ergebnisse freilich sind nicht | |
besser als im Ausland. Und dann gibt es Patienten, die gar nicht stationär | |
behandelt werden müssten, aber trotzdem aufgenommen werden. | |
Der Marburger Bund, der Verband der angestellten und beamteten Ärztinnen | |
und Ärzte, hat ein Reformkonzept vorgelegt. Kliniken und ambulante Zentren | |
im ländlichen Raum sollen kooperieren, medizinische Kompetenzen gebündelt | |
werden. Ist das sinnvoll? | |
Wir müssen radikaler denken. Wer muss stationär behandelt werden? Was kann | |
die Telemedizin leisten? Wir brauchen besser ausgestattete Häuser, die | |
weniger auf Betten setzen. Daneben brauchen wir Gesundheitszentren, die | |
auch ein paar Betten haben, für alte Menschen etwa, die, weil sie | |
vielleicht allein leben, betreut werden müssen, ein Bett brauchen – aber | |
eben nicht in einem Krankenhaus. | |
Die Deutsche Krankenhausgesellschaft hält das derzeitige Vergütungssystem – | |
die Fallpauschalen – für mitschuldig an der Misere. | |
Da würde ich den Ball mal ganz flach halten. Alle Vergütungssysteme haben | |
Vor- und Nachteile. Von Budgetsystemen, wie wir sie etwa aus Großbritannien | |
kennen, wissen wir seit Jahrzehnten, dass sie zu Unterversorgung und | |
Wartelisten führen. Nein, für die Normalversorgung ist unser System der | |
Fallpauschalen, das an die Patientenzahl und die Krankheitsschwere | |
adjustiert ist, vermutlich das beste. Bestimmte Teile des Krankenhauses | |
aber sollte man nicht an die Patientenzahlen koppeln, etwa die Notaufnahmen | |
oder Rettungsstellen. | |
Wieso? | |
Um den Anreiz zu mehr und häufig nicht notwendigen stationären Aufnahmen | |
abzumildern. Wichtiger als die Vergütung ist aber die Anzahl der Betten. | |
Solange wir so viele haben, besteht immer die Versuchung, sie auch unnötig | |
zu füllen. | |
Seit Jahrzehnten wird über Reformen debattiert. Wird sich in den nächsten | |
fünf Jahren etwas ändern? | |
Davon gehe ich aus. Das medizinische Personal wird mit den Füßen abstimmen. | |
Es wird Häuser geben, in denen aufgrund der Unattraktivität der | |
Arbeitsbedingungen, und dazu gehören zu wenige Patienten, keine | |
Pflegerinnen und Pfleger mehr arbeiten werden. Spätestens dann werden diese | |
Häuser schließen und einige Regionen ganz ohne Versorgung dastehen. Klüger | |
wäre, es durch gesteuerte Planung so weit nicht kommen zu lassen. | |
23 Sep 2020 | |
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## AUTOREN | |
Heike Haarhoff | |
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