# taz.de -- Klage gegen Bayer: Fatale Nebenwirkungen | |
> Felicitas Rohrer klagt gegen den Pharmakonzern. Sie nahm die | |
> Antibabypille Yasminelle und wäre deswegen beinahe gestorben. Sie ist | |
> kein Einzelfall. | |
Bild: Felicitas Rohrer, in der Hand die angebrochene Pillenpackung. | |
FREIBURG taz | Auf dem Tisch wirkt der kleine, nur acht Zentimeter lange | |
Blister wie der Ausschnitt aus einem großen Plan. Auf der Folie, hinter der | |
die eingeschweißten Pillen verpackt sind, stehen die sieben Wochentage, | |
eine Linie zieht sich durch, verbindet vier Wochen wie 28 Stationen eines | |
Weges. Es ist der Plan für einen Monat, Teil eines größeren Puzzles aus | |
solchen Streifen, der sich zu einem ganzen Lebensentwurf zusammenfügte. An | |
Tag drei, einem Samstag, bricht die Linie ab, die Pille wurde nicht durch | |
die Alufolie gedrückt. | |
Dieser dritte Tag war ausweislich des Blisters ein Samstag. Felicitas | |
Rohrers Plan nahm an diesem dritten Tag des neuen Zyklus eine dramatische | |
Wende. Sie erinnert sich noch daran, wie sie im Schockraum der | |
Universitätsklinik lag und es höchst merkwürdig fand, dass ihr ein fremder | |
Mann den BH mit einer Schere aufschnitt und vom Körper riss. „Komisch, dass | |
ich dieses Bild noch vor Augen habe und auch das Gefühl, das ich dabei | |
hatte“, sagt sie sechs Jahre später. | |
Dass er ihr anschließend den Brustkorb öffnete, bekam sie nicht mehr mit. | |
Aber sie weiß, dass er ihr damit das Leben rettete. Sie sagt, sie werde ihm | |
das nie vergessen. Dann muss sie eine Pause einlegen in der Schilderung | |
dessen, was am 11. Juni 2009, passierte. Später wird sie sagen, sie könne | |
seit diesem Tag den Tod spüren, wenn er neben sie tritt. | |
Sie will sich sammeln; was vor ihr liegt, erfordert Nüchternheit und | |
Disziplin. Denn Felicitas Rohrer, heute 31, hat sich mit einem mächtigen | |
Gegner angelegt, dem jede Sentimentalität abgeht. Außerdem hat der | |
Chemiekonzern Bayer gute Anwälte. Also sammelt sich die junge Frau mit den | |
blonden Locken, die von einem glitzernden Haarreif gebändigt werden. Sie | |
schluckt kurz, zieht einen Zeigefinger unter dem Auge durch und gibt sich | |
einen Ruck. Ihr Oberkörper richtet sich auf, geht in Kampfstellung. | |
## Mächtiger Gegner | |
Es geht um Bayer, 119.000 Mitarbeiter, 42,2 Milliarden Euro Jahresumsatz, | |
8,8 Milliarden Euro Gewinn. „Bayer handelt als Corporate Citizen sozial und | |
ethisch verantwortlich“, preist sich das Unternehmen auf seiner Website. | |
Genau das bezweifelt Felicitas Rohrer. Sie hat den Konzern aus Leverkusen | |
auf Schmerzensgeld und Schadenersatz verklagt. Am 17. Dezember beginnt der | |
Prozess vor dem Landgericht Waldshut. Es geht um die Frage, ob das | |
Unternehmen die Risiken verschwiegen hat, die mit der Einnahme der | |
Antibabypille der vierten Generation – Handelsname Yasminelle, Yasmine, Yaz | |
– aus dem Hause Bayer verbunden sind. Es geht um Produkte mit dem Wirkstoff | |
Drospirenon, der auch in anderen Pillen enthalten ist. | |
Der Prozess führt unweigerlich zurück zu jenem 11. Juni 2009. Felicitas | |
Rohrer hatte sich für einen Sprachtest angemeldet an der Uni in Freiburg, | |
es war Samstag, kurz vor 9 Uhr. Sie ist pünktlich. Und sie ist zum Glück | |
nicht allein. Ihr Freund begleitet sie. Er fängt sie auf, als sie auf dem | |
Weg zur Toilette zusammensackt. Er setzt den Notruf ab. | |
Dann geht es ganz schnell: Notarzt, Rettungswagen, Ohnmacht, Uniklinik, | |
umringt von Ärzten, Ohnmacht, Schockraum, Herzstillstand. In diesem Moment | |
ist Felicitas Rohrer klinisch tot. Dass sie am nächsten Tag auf der | |
Intensivstation eigenständig wieder die Augen öffnet, ist dem Einsatz der | |
Ärzte, der Technik und sehr großem Glück zu verdanken. Vor allen Dingen, | |
wie sie es überstanden hat. Denn wegen des vorübergehenden Herz- und | |
Atemstillstands und der Unterversorgung des Gehirns befürchteten die Ärzte | |
eine Schädigung des Hirns. | |
## Immer gesund gelebt | |
Felicitas Rohrer ist fast ein wenig außer Atem gekommen, sie gönnt sich | |
einen Moment Ruhe. Vor ihr liegt der angebrochene Pillenstreifen, dort | |
bleiben die Augen hängen, an dem Schminkkästchen mit Spiegel, das | |
Yasminelle-Kundinnen als Dreingabe bekamen. | |
Der Freude darüber, überlebt zu haben, folgt die Suche nach den Ursachen. | |
Felicitas Rohrer hat nach eigenen Angaben sehr gesund gelebt, Sport | |
getrieben, nicht geraucht. Sie hat sich im Nachhinein geärgert, dass ihr | |
Hausarzt nicht hellhörig wurde, als sie von ihrer Kurzatmigkeit berichtete, | |
von dem Druckschmerz im Brustraum, dem Ziehen im Bein, den Schwierigkeiten | |
beim Luftholen. Sie wurde auf eine Rippenfellentzündung behandelt, nahm | |
Antibiotika. Dabei hatte sich Wasser in ihrem Bauch eingelagert und in der | |
Lunge, die Venen des linken Beines waren verstopft. | |
Felicitas Rohrer wusste, dass die Einnahme der Pille mit einem gewissen | |
Thromboserisiko verbunden ist. Was sie nicht wusste: Das Risiko war bei | |
ihrer Pille doppelt so hoch wie bei Pillen der älteren Generation. Sie war | |
vom Gegenteil ausgegangen. Ihre Gleichung lautete: Vierte Generation gleich | |
niedriger dosiert und besser verträglich. | |
## Nicht allein damit | |
Felicitas Rohrer kann charmant und gewinnend lächeln. Und man kann dabei | |
schnell die fast gnadenlose Hartnäckigkeit und Schonungslosigkeit sich | |
selbst gegenüber übersehen. Die wird sichtbar, als sie einem | |
Anfangsverdacht nachgeht. | |
Der erste Schritt in diese Richtung folgte der Erkenntnis, dass sie nicht | |
allein ist. Sie hat eine Website eingerichtet, inzwischen kann sie die | |
Fälle von 478 jungen Frauen dokumentieren, die von Nebenwirkungen betroffen | |
sind. Junge, zuvor gesunde Frauen mit Thrombosen, mit Lungenembolien, mit | |
Schlaganfällen. Etliche konnten sich nicht mehr selbst registrieren – 16, | |
weil sie tot sind, andere, wie Celine, eine junge Frau aus der Schweiz, | |
weil sie seit einer beidseitigen Lungenembolie spastisch gelähmt und | |
schwerbehindert sind. Celine sitzt im Rollstuhl. 16 war sie, als das | |
passierte. | |
Sollte ein Bayer-Anwalt in dem Prozess weiter an der Theorie vom Einzelfall | |
festhalten, wird Felicitas Rohrer ihm jeden einzelnen Namen vorlesen. So | |
wie sie es seit Jahren auf der Hauptversammlung der Bayer-Aktionäre tut. | |
Sie hat dort dank der Vereinigung der kritischen Aktionäre ein Rederecht. | |
Sie kommt immer erst spät zu Wort, wenn die Aktionäre schon auf das Buffet | |
warten. Die erfahren dann nebenbei, dass Bayer mit Yasminelle mehr umsetzt | |
als mit dem Dauerläufer Aspirin – im Geschäftsjahr 2015 mehr als 800 | |
Millionen Euro. | |
## 48 Seiten Beipackzettel | |
Schwieriger wird ein zweiter Nachweis. Felicitas Rohrer greift in das | |
silberne Schminkkästchen, zieht zwei gefaltete Heftchen hervor: eine | |
Produktbeschreibung und ein Beipackzettel, 48 Seiten lang. Der | |
Beipackzettel stammt aus dem Jahr 2008. Das Erscheinungsdatum ist wichtig, | |
denn die Neuauflage wurde überarbeitet. Unter „häufige Nebenwirkungen“ | |
stehen Hinweise auf Stimmungsschwankungen, Akne und Kopfschmerzen, als | |
„gelegentliche Nebenwirkungen“ sind zwischen Depressionen, Hautkribbeln, | |
Fieberbläschen, Schlafstörungen und Schwellungen der Schleimhäute auch | |
Thrombosen und Lungenembolien genannt. Und weiter unten, unter | |
Risikofaktoren, wird erwähnt, dass Thrombosen „bei zunehmendem Alter“, | |
„wenn Sie übergewichtig sind“, auftreten können. Außerdem erhöhten hoher | |
Blutdruck, hohe Blutfettwerte und Diabetes das Risiko. | |
Felicitas Rohrer schüttelt den Kopf. „Nichts davon traf auf mich zu.“ Sie | |
klingt empört, fassungslos, angriffslustig. Zu diesem Zeitpunkt, das weiß | |
sie heute, gab es bereits eine Warnung des Bundesinstituts für | |
Arzneimittel. „Wenn ich gewusst hätte, dass das Thromboserisiko doppelt so | |
hoch ist wie bei herkömmlichen Pillen, ich hätte die niemals genommen.“ | |
In der Tat ist schwer nachvollziehbar, weshalb eine Pille auf den Markt | |
kommt, deren gewünschter Nutzen – die Verhütung – nicht größer ist als … | |
schon eingeführten Produkten. Der einzige Fortschritt sollte sein, dass sie | |
nebenbei das Erscheinungsbild von Haut und Haaren verbessert und es zudem | |
zu keiner Gewichtszunahme kommt. Das Produkt war zeitweise als Aknemittel | |
auf dem Markt. Das Begleitheft verspricht der „lieben | |
Yasminelle-Verwenderin“ einen „Smile-Effekt – du fühlst dich wohl in dei… | |
Haut“, einen „Feel-Good-Effekt – verbessert dein körperliches und | |
seelisches Befinden“ und einen „Figur-Bonus – hilft das Gewicht stabil zu | |
halten“. Fazit: „Mit der Yasminelle kannst du das Leben und die Liebe so | |
richtig genießen.“ Das zielt auf die junge Kundin, ganz besonders auf die | |
Erstanwenderin. Genau die aber sollte diese Pille eher meiden. | |
Was versprochen wurde, passte zum Lebensplan von Felicitas Rohrer. Der sah | |
etwa so aus: Kurzfristig wollte sie nicht schwanger werden, mittelfristig | |
ihre berufliche Situation klären und langfristig eine Familie gründen. | |
Wegen der beruflichen Perspektive für die nächsten Jahre war sie an jenem | |
11. Juli in Freiburg. Sie hatte ihr Studium der Tiermedizin gerade | |
abgeschlossen und wollte noch einen Journalismusstudiengang anschließen, um | |
dann beruflich Fuß fassen. Für später war fest die Gründung einer Familie | |
vorgesehen. | |
## Täglich der Lymphomat | |
Felicitas Rohrer lenkt die Aufmerksamkeit Ihres Besuchers mit ihrem Blick | |
auf den Holzboden neben der Couch, wo ein blauer Gummianzug liegt mit | |
Schläuchen, er gleicht einer Mischung aus Taucherkleidung und Anglermontur. | |
„Ein Lymphomat“, sagt sie kühl. Keine junge Frau sieht gerne so ein Teil in | |
ihrer geschmackvoll eingerichteten Wohnung liegen. Aber es ist eine | |
Platzfrage. Einmal pro Tag muss sie in die Hosenbeine steigen, sich | |
hinlegen und durchwalken lassen. Der Körper braucht Unterstützung von | |
außen, weil die Venen nicht mehr elastisch sind und sich in den Lymphen | |
Wasser staut. Aus diesem Grund kann sie auch keine feste Ganztagsstelle | |
annehmen. Als Tierärztin wird sie wegen der körperlichen Belastung wohl | |
nicht arbeiten können. | |
Auch in den USA gab es Todesfälle und schwere Erkrankungen, Bayer hat dort | |
inzwischen 1,9 Milliarden Dollar bezahlt. Mehr als 10.000 Frauen hatten | |
sich dort den Sammelklagen angeschlossen. Stets erfolgte die Einigung mit | |
der Klägerin vor einem Urteil. So konnte Bayer immer verhindern, dass ein | |
Gericht verbindlich festhalten konnte, dass der Wirkstoff Drospirenon für | |
die schweren Zwischenfälle verantwortlich war. Obwohl es zahlreiche frühe | |
Warnungen und Studien gab, obwohl die heutigen Beipackzettel das | |
Thromboserisiko korrekt angeben – Bayer wehrt sich gegen die Feststellung, | |
etwas gewusst und verschwiegen zu haben. Felicitas Rohrers | |
Entschädigungsforderung wurde zurückgewiesen. Jetzt will sie es wissen. | |
Auch weil „ich endlich einen Haken unter die Geschichte machen will“. | |
Sofern das möglich ist. | |
Die Kinderfrage stellt sich derzeit nicht, zum einen ist die Beziehung über | |
all den Turbulenzen zerbrochen, zum andern, weil Felicitas Rohrer | |
blutverdünnende Mittel einnehmen muss. Das verträgt sich nicht mit einer | |
Schwangerschaft. Sie weiß, was das bedeuten kann. „Die Sorglosigkeit ist | |
weg.“ Der Satz steht lange im Raum, er hat nichts Kämpferisches an sich. | |
Sie lebe heute stärker in den Momenten des Tages, langfristige Pläne sind | |
unverbindlicher. Die Lampe im Flur in ihrer neuen Wohnung hat auch nach | |
einem Jahr noch keinen Schirm. | |
15 Dec 2015 | |
## AUTOREN | |
Franz Schmider | |
## TAGS | |
Pharmaindustrie | |
Schwerpunkt Bayer AG | |
Schwerpunkt Bayer AG | |
Verhütung | |
Verhütung | |
Gesundheit | |
Brustkrebs | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Klage gegen Bayer: Wie gefährlich ist die Pille? | |
Seit zehn Jahren liegt Felicitas Rohrer mit dem Pharmakonzern wegen dessen | |
Verhütungspille im Rechtsstreit. Bisher erfolglos. Nun geht sie in | |
Berufung. | |
Soziologin über 60 Jahre Pille: „Kein emanzipatorisches Projekt“ | |
Am 18. August 1960 kam die Pille auf den Markt. Sie brachte Frauen die | |
sexuelle Befreiung – doch die Interessen dahinter waren andere. | |
Prozess wegen Verhütungspille: Gericht empfiehlt Einigung | |
Wie gefährlich ist die beliebte Verhütungspille „Yasminelle“? Ein Prozess | |
zum Thema läuft seit Jahren. Auch ein Gutachter bringt keine Klarheit. | |
Fehlbildungen bei Babys: Ein Test und seine Folgen | |
Wusste ein deutscher Pharmakonzern frühzeitig von der schädigenden Wirkung | |
seines Präparats? Die Bayer AG streitet alle Vorwürfe ab. | |
Gendiagnostik, Brustkrebs und die Folgen: Eine Frage des Befunds | |
Nadine Prahl hat das Brustkrebsgen BRCA geerbt und ließ sich die Brüste | |
vorbeugend abnehmen. Nun streitet die Finanzbeamtin um die Kosten. | |
Möglicher Skandal durch Hormonpräparat: Der Fluch der Smarties | |
André Sommer muss seit seiner Geburt mit Missbildungen leben. Ursache ist | |
wohl ein Medikament. Vor Gericht soll sich ein Pharmariese verantworten. | |
Doch der mauert. |