| # taz.de -- Kirche ohne Mitglieder: Reif für die gottlose Gesellschaft? | |
| > Der Zustand der Kirche erinnert an Palliativmedizin und Sterbebegleitung | |
| > statt an die Feier des Lebens. Ihr Siechtum ist dennoch keine gute | |
| > Nachricht. | |
| Bild: „Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten? Er ist nicht hier, sondern e… | |
| Ostern ist das prächtigste Freiluftspektakel der christlichen Welt. Wer | |
| mal [1][die Semana Santa] am Pazifikstrand oder die Prozession im | |
| andalusischen Sevilla erlebt hat, versteht, warum das Berghain in | |
| Nordeuropa erfunden werden musste: Drei Tage wach, Körper und Geist von | |
| Musik und Masse verzücken zu lassen – dafür brauchen Katholiken im Süden | |
| nicht erst einen Club zu gründen. | |
| Religiöse Momente sind Live-Events. Es braucht Masse um einen herum, um so | |
| in Verzückung zu geraten – auch wenn es Leute gibt, die beim Sound ihrer | |
| Stereoanlage ähnliche Stadien erreichen. Außerhalb dieser Live-Events | |
| landet die Kirche in der „Tagesschau“ nur noch auf den hinteren | |
| Sendeplätzen, in der Abteilung Vermischtes, also da, wo auch der Bericht | |
| über [2][die Loveparade] lief, als es sie noch gab. Weiter vorne landet sie | |
| nur noch, wenn es um Verbrechen in ihren eigenen Reihen geht. Es ist | |
| Ostern, aber statt der Kirche dabei zuzusehen, wie sie voller Verzückung | |
| die Auferstehung Jesu feiert, hat man das Gefühl von Sterbebegleitung. Wir | |
| schauen dem Siechtum ungläubig zu: Wie kann es sein, dass dieser | |
| jahrhundertealten Superpower nichts anderes mehr einfällt als | |
| Palliativversorgung? | |
| Anfang des Jahres warnte der Papst: „Wenn Ideologie in kirchliche Prozesse | |
| einfließt, geht der Heilige Geist nach Hause.“ Ein schönes Bild; allein, | |
| dass er mit Ideologie nicht die katholische Weltanschauung meinte, in der | |
| eine Frau unrein und Homosexualität Teufelszeug ist. Ideologie sieht der | |
| Papst [3][in der aktuellen Reformbewegung der deutschen Katholiken, im | |
| Synodalen Weg]. | |
| Ideologie ist wie Mundgeruch | |
| Auch der Papst unterliegt also dem Glauben, den der marxistische | |
| Theoretiker Terry Eagleton anschaulich beschrieb: Ideologie sei wie | |
| Mundgeruch, den haben immer nur die anderen. Ausgerechnet der 266. Bischof | |
| von Rom. Ausgerechnet Papst Fanziskus, von dem sich so viele erhofft | |
| hatten, er würde der sympathische Anführer einer Reformbewegung sein, der | |
| Verantwortung für die eigenen Verbrechen übernimmt, Geschichte aufarbeitet, | |
| Opfer entschädigt, Geschlechterdiskriminierung, Hierarchien, Korruption | |
| abbaut und den Palliativansatz seiner Vorgänger über den Haufen wirft. | |
| Dabei könnte er sich doch im hauseigenen Fundus bedienen: „Was sucht ihr | |
| den Lebenden bei den Toten? Er ist nicht hier, sondern er ist | |
| auferstanden“, heißt es im Lukas-Evangelium, das dieser Tage in zig | |
| Ostergottesdiensten wieder zitiert werden wird. | |
| Doch die Kirche sucht ihr Leben weiter unter den Toten. „Die Kirche ist | |
| tot, es lebe der Glaube!“, feiern Kirchenkritiker deswegen konsequent den | |
| Schwund der Kirchenmitglieder, den auch Franziskus fast schon mutwillig | |
| befeuert. Verbrechen, Verschwendung, Versklavung, Vertuschung, Missbrauch | |
| von Macht, Kindern und, ja, auch Männern, die durchs Zölibat gezüchtigt | |
| werden sollen – so viele Gründe, dem Laden, der jahrhundertelang | |
| Spitzenreiter in der weltweiten Vermarktung der guten Gewissen war, die | |
| Insolvenz zu wünschen. Das Christentum hat die größten Verbrechen der | |
| Menschheitsgeschichte mitzuverantworten und das größte, die Shoah, nicht | |
| verhindert. Es hat weder der Arbeiterklasse noch dem Klima was gebracht. | |
| Für Flüchtende tritt es auch nur dann ein, wenn die Überlebenden ihnen die | |
| Tür eintreten. Man könnte also sagen: Scheiß drauf. | |
| Für eine immer größer werdende Mehrheit von Christen stimmt das | |
| Preis-Leistungs-Verhältnis sowieso nicht mehr. Ihnen wird einfach nicht | |
| mehr genug geboten. Nicht nur im Norden, wo das einzige Spektakel, das man | |
| sich in den dortigen Kirchen gönnte, aus einem Osterfeuer besteht, auf dem | |
| der Sperrmüll aus dem Frühjahrsputz verbrennt. Die Kirchen sind heute | |
| schlicht nicht mehr konkurrenzfähig. | |
| Aber ist das wirklich eine gute Nachricht, ein Grund zum Feiern für | |
| Atheisten, Häretiker oder Agnostiker, Kapitalismuskritiker? Der | |
| Mitgliederschwund der Kirchen hat nur bedingt mit dem Bekanntwerden | |
| sexuellen Missbrauchs und dessen Vertuschung zu tun. Es ist banaler: Der | |
| Mitgliederschwund der Kirchen hält seit den 1980er Jahren an und verläuft | |
| parallel zum Mitgliederschwund der Parteien, Gewerkschaften, Vereine. | |
| Jegliche kollektive Organisierung steht unter Ideologie- und | |
| Hierarchieverdacht. | |
| Soziologen wie Robert Putnam („Bowling Alone“) warnten schon vor 20 Jahren | |
| vor Individualisierung und Privatisierung des Sozialen. Der Verlust | |
| kollektiver Organisierung münde in Nomadentum, was den Rechten Zulauf | |
| bringe, da sich populistische, sektenhafte, protofaschistische bis | |
| faschistische Mobs in den sozialen Brachen breitmachen könnten. Ereignisse | |
| wie die Wahl des quasiparteilosen Donald Trump zum US-Präsidenten, der | |
| Sturm aufs Kapitol, aber auch die Querdenkerbewegung könnten dieser Analyse | |
| recht geben. | |
| Wo früher Kollektive der Autorität des Staats entgegentraten, stehen heute | |
| lose Schwärme und Mobs von Querdenkern, QAnon-Anhängern oder | |
| Internettrollen. Anstelle kollektiver Betriebsversammlungen drückt heute | |
| das individuelle quiet quitting die Unzufriedenheit aus. Mit der Folge, | |
| dass die Entfremdung immer größer, die eigene Stellung aber auch nicht | |
| besser wird. | |
| Doch mit den Kirchen ist es wie mit den Zeitungen und der Wirtschaft. | |
| Sowenig der Tod der gedruckten Zeitung das Ende des Journalismus oder das | |
| Ende der Fünftagewoche das Ende des Kapitalismus ist, wird das Ende der | |
| Kirche das Ende von Glaube, Religion und Gott sein. Für eine gottlose | |
| Gesellschaft aber sind wir sowieso noch nicht reif. | |
| Die Frage ist, was und wer in das Vakuum tritt, das die dahinscheidenden | |
| Kirchen hinterlassen. Wird Elon Musk und seine Techreligion den Petersdom | |
| zum Hauptsitz machen? Werden die Querdenker in den Kölner Dom einziehen? | |
| Sollen die Steuern künftig nicht der Kirche, sondern dem Klangschalenyogi, | |
| dem Großstadtshrink oder dem Preppertoni überwiesen werden? Sicher, ob man | |
| Raver oder Reichsbürger wird, an wen man sein Seelenheil knüpft und wen man | |
| dafür bezahlt, entscheidet jeder selbst. Dass die komplette | |
| Individualisierung alternative Kirchen hervorbringt, die nicht ganz so | |
| harmlos sein könnten, wie die Klangschale klingt, ist aber alles andere als | |
| ausgeschlossen. | |
| 9 Apr 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Doris Akrap | |
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