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# taz.de -- Kinotipp der Woche: Der helle Wahnwitz
> Ein Special zu einem krummen Geburtstag: Das Lichtblick-Kino zeigt einen
> ganzen Nachmittag und Abend lang Filme von und über Christoph
> Schlingensief.
Bild: „Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien“ (D 2020, R: Betti…
Es muss nicht immer ein rundes Jubiläum sein, um eine Große oder einen
Großen zu ehren, irgendein krummer Geburstag tut es auch. Zumindest für das
Lichtblick Kino, das am 24. 10., an dem der [1][Regisseur, Künstler und
Tausendsassa Christoph Schlingensief] 61 Jahre alt geworden wäre, einen
ganzen Tag lang [2][den vor elf Jahren gestorbenen Universalkünstler
feiert]. Vier Filme werden gezeigt, zwei von Schlingensief selbst und zwei,
die sich mit ihm und seinem Werk auseinandersetzen.
Los geht es mit “Ausländer raus! – Schlingensiefs Container“ von Regisse…
Paul Poet, der eine Kunstaktion des enfant terribles dokumentiert, die es
in sich hatte und deren provokative Kraft beeindruckend eingefangen wird.
Im Jahr 2000 stellte damals Schlingensief mitten im Herzen Wiens einen
Container auf, in den echte Asylbewerber gepfercht wurden. Nach Art des
damals populären “Big Brother“-Formats konnten diese beobachtet und
rausgewählt werden. Wer rausflog, so das Versprechen, wurde sofort
abgeschoben.
Die rechtsnationale Partei FPÖ wurde kurz vor der Aktion bei der Wahl in
Österreich zur zweitstärksten Kraft und mit dem dubiosen Jörg Haider an der
Spitze zur Regierungspartei. Das ganze Land war in Aufruhr und das Ausland
auch. Und da kam der Piefke Schlingensief und hielt den Österreichern den
Spiegel vor.
## Reingelegt
Irre viele von ihnen kamen vorbei, um sich das Kunst- und
Performance-Spektakel selbst anzuschauen. Vielen war gar nicht klar, ob das
nun Kunst war oder ob sie wirklich Ausländer nach Hause schicken durften.
Man sieht Besucher und Besucherinnen, die sich ertappt fühlten und das
Gefühl bekamen, reingelegt worden zu sein.
Sie merkten irgendwann, dass da bloß einer den Rassismus aus ihnen
herauskitzeln wollte. Manche tickten richtig aus, schrien herum, fühlten
ihr schönes Österreich beschmutzt von einem Künstler und prügelten gar auf
diesen ein. Es war ein Happening, das die ganze Stadt und das ganze Land
aufwühlte und das zeigte, welch enorm anarchische Wucht Schlingensief in
seinen besten Momenten entfachen konnte.
In der im letzten Jahr in die Kinos gekommenen Doku “Schlingensef – in das
Schweigen hineinschreien“ von Bettina Böhler, die das Lichtblick Kino nun
noch einmal zeigt, sieht man den Portraitierten, wie er mit dem Erfolg, den
er mit der Aktion in Wien hatte, eher haderte. Plötzlich wurde ihm von
allen Seiten auf die Schulter geklopft, beklagte er sich und alle fanden
ihn mit einem Mal richtig gut.
## Ewig rastlos und getrieben
Aber vereinnahmen lassen und Konsens erzeugen, nein, das wollte er
eigentlich nie und das wird auch an anderen Stellen in dieser Dokumentation
schön herausgearbeitet. Die zeigt einen ewig Rastlosen und Getriebenen, der
sich auch gerne mit Feministinnen und Linken anlegte, wenn es sein musste.
Und der, gerade als er sich daran gemacht hatte, mit seinen legendär
subversiven Theaterinszenierungen an der Volksbühne den bürgerlichen
Kunstbegriff einzustampfen, ausgerechnet bei den Bayreuther Festspielen
anheuerte, dem Pantheon der Kulturschickeria. Immerhin sorgte er auch in
Bayreuth für ein paar hüsche Skandale und bekam dort eine Zeit lang sogar
Hausverbot.
Bettina Böhler, die bei der Vorführung ihres Films im Lichtblick-Kino
selbst anwesend sein wird, ist ein sehr intimer und informativer Blick auf
Schlingensief gelungen. Sie zeigt den Sohn eines Apotherks aus Oberhausen,
der immer berühmter als Skandalnudel der Nation wird, was seine
bürgerlichen Eltern zunehmend irritiert.
Ihr Junge wird bei seiner “Tötet Helmut Kohl!“-Aktion vor der Volksbühne
von der Polizei abgeführt und ist auch sonst ständig in den Schlagzeilen,
dabei hätten sie es so gern gehabt, dass er einfach nur Medizin studiert
hätte.
## Wessis fangen Ossis
Stattdessen hat er neben seiner Kunst und seinem Theater lieber seine
bizarren und grotesken Filme gedreht. Splatter-Klamauk wie “Das deutsche
Kettensägenmassaker“, in dem Wessis kurz nach der Wende Ossis fangen, um
sie zu Wurst zu verarbeiten. Oder “Die 120 Tage von Bottrop“ und “Terror
2000 – Intensivstation Deutschland/Deutschland außer Kontrolle“, die das
Lichtblick beide zeigen wird.
In den Filmen, in denen die ganzen Lieblinge seiner damaligen Entourage
auftreten, von Udo Kier bis hin zu Rainer Werner Fassbinders
Stammschauspielern, regiert der helle Wahnwitz. Eine stringente Handlung
findet man in beiden Streifen nicht. Dafür umso mehr skurrile Szenen und
schrägen Schabernack.
Einer wie Schlingensief wird heute vermisst, heißt es immer wieder. Einer,
der sich trauen würde, überall anzuecken, auch wenn der Twitter-Mob sofort
über ihn herfallen würde. Schaut man sich Schlingensief und seinen
Nonkorformismus nun noch einmal genauer an, kann man wirklich nur sagen:
Ja, er fehlt.
23 Oct 2021
## LINKS
[1] /WDR-sendet-Schlingensiefs-Hoerspiele/!5720061
[2] https://www.lichtblick-kino.org/extra/2021/21_10_Schlingensief
## AUTOREN
Andreas Hartmann
## TAGS
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Filmregisseur
Theater
Performance
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Clubkultur
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