| # taz.de -- WDR sendet Schlingensiefs Hörspiele: Guter, alter Trash | |
| > Christoph Schlingensiefs Hörspiele waren höchste Radiokunst. Zu seinem | |
| > 60. Geburtstag sendet der WDR eine Woche lang seine besten Stücke. | |
| Bild: Christoph Schlingensief bei seiner „Nazi-Sprechstunde“ 2001 in Zürich | |
| Das Hörspiel sorgte für viel Aufregung. Eine knappe Stunde lang drang | |
| „[1][Rocky Dutschke ’]68“, Christoph Schlingensiefs erstes Radiostück, in | |
| alle Ritzen des lederknarrenden Sitzungssaals im Saarländischen Rundfunk. | |
| Es überwältigte die Jury, die 1998 hier tagte, um den „Hörspielpreis der | |
| Kriegsblinden“ an das innovativste Hörstück des Jahres zu vergeben. Dann | |
| löste die ungemein pietätlose aktionistische Stimmperformance durch ihre | |
| unmittelbar körperlich Wucht geradezu handgreifliche Wortgefechte zwischen | |
| Begeisterten und Empörten aus. | |
| Den Preis erhielt der Künstler dann nicht. Aber die Weichen für eine oft | |
| übersehene Werkgruppe Schlingensiefs waren mit dieser durchgeknallten | |
| Radiosatire auf den selbstgefälligen Kulturbetrieb Westdeutschlands | |
| gestellt: Beobachten, das Gesehene im Subjektiven filtern und zuspitzen – | |
| das tat er bis zu seinem Tod vor zehn Jahren immer. „Ich produziere den | |
| Trash nicht – ich finde ihn“, heißt es in einer Rede Schlingesiefs. | |
| Jeder gute Zeitdiagnostiker verfährt so, wobei unbedingt Aleida Assmanns | |
| weite Definition von „Trash“ als „kultureller Hinterlassenschaft“ | |
| mitschwingen sollte. Denn wenn auch Schlingensiefs Arbeitsgestus das | |
| Schrille, das Hyperaktive, im Prozess entwickelte war, blieb er | |
| kenntnisreicher Bildungsbürger. Einer, der unter der Erstarrung des | |
| Kulturbetriebs im besserwisserisch Selbstgefälligen litt. | |
| Schlingensief glaubte an die heilende Welt und die Menschen umfassende | |
| Kraft von Kunst. Wie sonst ist seine Überzeugung erklärbar, das | |
| Sich-einlassen auf den Opernrummel in Bayreuth habe ihn krank gemacht und | |
| der Aufbau eines Kulturdorfs in Burkina-Faso könne Gegengift sein? Auf | |
| mich wirkte es immer so, als sei die Konzentration aufs Akustische, die das | |
| Hörspiel ihm auferlegte, besonders fruchtbar gewesen. Schlingensief liebte | |
| all das, was Radiokunst so sprühend vital macht: das schräge Geräusch, das | |
| direkte Wort, den suggestiven Soundtrack und die Stimmakrobatik. | |
| ## Komisch, aber mit tödlichem Ernst | |
| Auf „Rocky Dutschke ’68“ folgte „[2][Lager ohne Grenzen]“, eine heute | |
| wieder hochaktuelle Helfersyndrom-Persiflage. Mit „[3][Rosebud]“ legte | |
| der Radiokünstler dann einen entlarvenden Politkarneval vor, der nichts | |
| weniger sein wollte als „die Geschichte eines deutschen Großverlegers. Die | |
| Geschichte des deutschen Theaters und die Geschichte der Berliner | |
| Republik“. Kleiner ging es eben nicht bei ihm. Gerhard Schröder ist dabei | |
| samt damals aktueller Gattin ein zum Verleger geläuterte Ex-Terrorist. Dazu | |
| der unter einem anderen Namen klar erkennbare Alleswoller Guido | |
| Westerwelle. Man gründet Großzeitungen, schwärmt von den guten alten | |
| RAF-Zeiten, ringt mit dem neuen Terrorismus. Adorno, der Säulenheilige der | |
| 68er, rhythmisiert das Ganze mit klugen O-Ton-Sätzen. | |
| Von heute aus gesehen ist dies eine wichtige Geschichtslektion. Wie in | |
| allen Hörspielen Schlingensiefs spielen die Darsteller das fein kalkulierte | |
| Chaos umwerfend komisch, aber mit tödlichem Ernst. So dass die spaßige | |
| Sause einen düsteren Unterton bekommt, der an brutale Kaspereien der | |
| Kulturgeschichte erinnert: an die gewalttätige „Punch and Judy“-Show oder | |
| das Théâtre de Grand Guignol, Vorläufer aller Trash- und Horrorfilme. Zum | |
| sechzigsten Geburtstag von Christoph Schlingensief veranstaltet sein | |
| Heimatsender WDR ein Festival mit Gesprächen und Hörspielen. Diese Stücke | |
| sind Gold wert: Jede Minute ein akutes Liveerlebnis des Künstlers, seines | |
| Werks und seines Wirkens. Genau diese Unmittelbarkeit des Erlebens macht | |
| seine furchtbare Abwesenheit erfahrbar. | |
| 19 Oct 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Gaby Hartel | |
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| Jonathan Meese | |
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