# taz.de -- Kenah Cusanits Roman „Babel“: Es braucht großen Respekt vor Zi… | |
> Eine Archäologie des Wissens: Die Autorin Kenah Cusanit rekonstruiert die | |
> Ausgrabung Babylons und die Zeit um das Jahr 1900. | |
Bild: Der Euphrat am Expeditionshaus im Jahr 1914 | |
Es sind nur Lehmziegel. Das so prächtige Ishtar-Tor und die so | |
beeindruckende babylonische Prozessionsstraße, die mit ihrem blauen | |
Emailleschimmer und den ockerfarbenen Tierdarstellungen (Löwen, Stiere, | |
Drachen, Schlangen) seit 1930 weltberühmt im Berliner Pergamonmuseum | |
herumstehen, sie sind im Wesentlichen aus glasiertem Lehm zusammengesetzt. | |
Keine Prunkstücke aus Gold, keine Säulen oder Skulpturen aus Marmor, | |
sondern Lehm: Matsch und Staub. | |
Auf einer seiner Ebenen öffnet einem der Roman „Babel“ – der in der | |
Literaturkritik und sogar auch schon auf den Bestsellerlisten gerade so | |
schöne, überraschende Erfolge feiert – eindringlich die Augen dafür, was | |
dieses poröse Material für die Ausgrabungen bedeutet hat. Und zugleich | |
macht er klar, dass die Geschichtsschreibung und das Romaneschreiben, | |
überhaupt das Erzählen von Menschen und Zeiten, sich letztlich nur aus | |
ähnlich porösem Material zusammensetzen. | |
„Als sie anfingen, Babylon auszugraben“, heißt es an einer Stelle, „wuss… | |
sie nicht, worauf sie zu achten hatten, welche Art Architektur sie | |
antreffen würden, welchen Baustoff, wie er zu erkennen und vor allem | |
unbeschadet freizulegen war.“ Als sie es dann wussten, wurde es nicht | |
besser. Lehmziegel, die Tausende Jahre lang in der Erde liegen, gleichen | |
sich ihrer Umgebung an; der Lehmboden um sie herum härtet unter Druck aus, | |
die Ziegel dagegen weichen teilweise auf. | |
Bei jedem einzelnen Ziegel mussten die Ausgräber mögliche Fugen ertasten, | |
um zu erkennen, wo der Ziegel aufhört und die ihn umgebende Erde anfängt. | |
Außerdem haben sich viele der Ziegel aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang | |
gelöst, sie sind zerbrochen, sie wurden weggeworfen, die Bewohner Babylons | |
haben sie in späteren Baustufen teilweise in ganz anderen Gebäuden | |
wiederverwendet. | |
Kenah Cusanit, geboren 1979, hat bislang Gedichte und Essays geschrieben. | |
Ihr Debütroman „Babel“ ist denkbar unheroisch. Die Orientbegeisterung des | |
deutschen Kaiserreichs, die zum Hintergrund der Ausgrabungen Babylons | |
gehört – indem man den Ursprung des Abendlandes freilegte, glaubte man sich | |
irgendwie selbst ins Zentrum der Weltkultur zu setzen, Wilhelm II. konnte | |
sich in eine Ahnenreihe stellen, die bis zu Nebukadnezar zurückreicht –, | |
wird eher analysiert als geschildert. | |
Und die Forscher um den Archäologen Robert Koldewey, die gegen Ende des 19. | |
Jahrhunderts also zum Euphrat aufbrachen, um das sagenumwobene Babylon zu | |
finden, sind eher Sonderlinge, eigen, oft genug krank – Koldewey selbst | |
steht in dem Zeitraum, in dem Kenah Cusanit ihn schildert, kurz vor einem | |
Blinddarmdurchbruch: „Sie waren die innovativsten Ausgräber, die jemals im | |
Orient gegraben hatten, und die angeschlagensten.“ Und dennoch (oder gerade | |
deswegen): Man bekommt, wenn man diesen Roman liest, einen gewaltigen | |
Respekt vor Ziegeln. | |
## Ein literarisches Mosaik | |
Die Bezeichnung „historischer Roman“ trifft für dieses Buch eigentlich sehr | |
gut, nur sollte man sich darunter in diesem Fall nichts Falsches | |
vorstellen. Weder wirft Kenah Cusanit ihren Figuren historische Kostüme | |
über, noch versucht sie sich in einer historisierenden Erzählerstimme. | |
Vielmehr entwirft sie rund um einige Situationen – Koldewey liegt in seinem | |
Zimmer und leidet an seinem Blinddarm, er fährt nach Berlin, um dem Kaiser | |
Bericht zu erstatten – ein Mosaik aus Briefzitaten, Grabungsschilderungen, | |
essayistischen Einschüben, auch Listen (die Namen der Wissenschaftler, die | |
im Eiffelturm verewigt sind, die Namen der arabischen Arbeiter auf den | |
Grabungsstätten). | |
Der Vergleich, dass Kenah Cusanit die Hintergründe der Babylon-Ausgrabungen | |
ähnlich akribisch ausgräbt wie die historischen Wissenschaftler ihre | |
Ziegelmauern, liegt nahe; Michel Foucaults Begriff einer „Archäologie des | |
Wissens“ kommt einem in den Sinn. Und dass man ganz ähnlich wie die | |
Forscher bei ihren Grabungen als LeserIn des Romans zuerst gar nicht recht | |
weiß, worauf man zu achten hat, dass man sich die Architektur des Textes | |
erst erschließen muss und dass man teilweise überhaupt erst ertastet, was | |
nun zum Baustoff der Geschichte zählt, das gehört zum Leseprozess dazu. | |
Kenah Cusanit schafft es, dass das Lesen dieses Buches selbst einer | |
Expedition gleicht, Vor- und Zurückblättern sowie Google-Recherchen zu den | |
historischen Hintergründen inklusive. Sich mit einer fremden Umgebung | |
vertraut zu machen „hieß“, so schreibt sie an einer Stelle, „alles so er… | |
wie möglich und kompliziert wie nötig zu sehen“. Es ist eine Kunst für | |
sich, wie Cusanit den Leser, die Leserin bei alledem bei der Stange hält. | |
## Registrierendes und arrangierendes Erzählen | |
Aber warum hat Kenah Cusanit nicht einfach einen historischen Essay oder | |
eine geisteswissenschaftliche Darstellung geschrieben? Der Vorteil, dass | |
sie ihr Wissensmosaik im Modus eines Romans und damit des Erzählens | |
ausbreitet, liegt darin, dass sie alles in der Schwebe lassen kann. Der | |
Glaube der Entdecker, in Babylon auf die Wiege der Zivilisation zu stoßen; | |
die Ähnlichkeiten, ja Verquickungen zwischen den orientalischen und den | |
okzidentalischen Mythengeschichten; die strukturellen Verbindungen von | |
Religion und Wissenschaft – das alles kann Cusanit erzählend ausbreiten. | |
Wobei ihr Erzählen gerade nicht einfühlend vorgeht, sondern registrierend | |
und arrangierend. Was einen an diesem Buch letztendlich fasziniert, ist | |
wohl vor allem dieser erzählende Blick von ganz weit weg auf die | |
historischen Vorgänge. | |
Man meint als Leser, tatsächlich eine Ahnung von einem großen | |
Menschheitsganzen zu erhaschen, davon, wie alles immer mit allem | |
zusammengehangen hat, die antiken Ziegel und die modernen | |
Wissensformationen, die Bezahlung der arabischen Arbeitskräfte, die | |
politischen Konflikte kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, preußische | |
Systematik und auch das „bessere Licht“ des Orients, das mit den Ausgräbern | |
auch die Fotografen anlockte – einige historische Aufnahmen sind in den | |
Roman integriert. | |
## Unsichere Fundamente | |
Im letzten Viertel springt Cusanit in das Berlin von kurz nach 1900, Robert | |
Koldewey hat eine Audienz beim Kaiser. An diesen Stellen forciert sie | |
etwas, indem sie das Berlin des Kaiserreichs und das historische Babylon | |
vielleicht zu nah aneinanderrückt. Unter den Linden erscheint als Berliner | |
Variante der antiken Prozessionsstraße. Das sich gerade elektrifizierende, | |
chaotisch wachsende Berlin schildert Cusanit als auf dem besten Wege, das | |
dritte Babylon zu werden (Rom war das zweite). | |
Zugleich erzählt Cusanit hier aber auch von den konkreten historischen | |
Voraussetzungen für die archäologischen Expeditionen. Als er im Berliner | |
Stadtschloss angekommen ist (das inzwischen ironischerweise auch | |
rekonstruiert wurde, und zwar sehr viel fassadenhafter, als Cusanit die | |
Babylon-Expeditionen rekonstruiert), stellt sich Koldewey vor, wie Wilhelm | |
II. und sein Reichskanzler „gemeinsam bei Tee und Kuchen neben den | |
aktuellen Plänen zur kulturellen und kolonialen Eroberung der Welt auch die | |
Ausgrabung Assurs beschlossen hatten“. Die Ausgrabungen waren eben auch ein | |
imperialer Akt, auch das gehört zu dem Mosaik, das Kennah Cusanit | |
zusammensetzt. | |
Interessant ist, sich zu überlegen, warum das Schreiben Kenah Cusanits | |
dagegen so wenig imperial wirkt. Weil sie nicht den Eindruck vermittelt, | |
sichere Fundamente auszugraben, auf denen man Reiche gründen kann. Es sind | |
alles nur Ziegel. | |
16 Feb 2019 | |
## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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