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# taz.de -- „Keep it in the ground“: Aber nicht, wenn es die EU braucht
> Norwegen will die Öl- und Gasförderung in der Arktis noch weiter
> ausdehnen – auch auf Wunsch Europas. KlimaschützerInnen protestieren.
Bild: Ölplattform in Stravanger, Norwegen
Stockholm taz | „Man kann das einfach nicht glauben“, sagt Ane Breivik,
Parlamentarierin der liberalen Venstre und Vorsitzende der
Parteijugendorganisation Unge Venstre: „Wenn die Regierung dort nach immer
mehr und mehr Öl und Gas bohren will, beweist sie eigentlich nur, dass sie
den Ernst der Klimakrise nach wie vor absolut nicht verstanden hat.“
Worauf sie und VertreterInnen anderer norwegischer Parteien mit einem
grünen Profil sowie alle Klimaschutz- und Umweltorganisationen mit großer
Empörung reagiert haben, ist die Ankündigung der sozialdemokratisch
geführten Regierung von Ministerpräsident Jonas Gahr Støre, Lizenzen für 92
neue Öl- und Gasfelder auszuschreiben. Von ihnen liegen 78 in der
arktischen Barentssee zwischen dem norwegischen Festland und Spitzbergen.
Die Erkundung und Erschließung neuer Öl- und Gasvorkommen sei für Norwegen
und Europa von großer Bedeutung, begründete Öl- und Energieminister Terje
Aasland den Beschluss: Um die wachsende Nachfrage gerade aus EU-Ländern
auch künftig decken zu können „wollen und können wir unsere Förderung ja
nicht abwickeln, sondern wollen sie entwickeln“.
Mit ähnlicher Begründung hatte der Minister schon im Januar die Vergabe von
47 neuen Förderlizenzen verteidigt, die Oslo vorwiegend in der Nordsee und
im Nordatlantik ausgeschrieben hatte: Nach dem weitgehenden Ausfall der
russischen Lieferungen müsse Norwegen „seiner Rolle als sicherer und
berechenbarer Öl- und Gasproduzent für Europa gerecht werden“. Das Land ist
mittlerweile Europas größter Gaslieferant und hat angekündigt, auch seine
Ölproduktion in diesem Jahr um rund 7 Prozent gegenüber 2022 steigern zu
wollen. Die Einnahmen aus den Öl- und Gasexporten haben sich im vergangenen
Jahr angesichts von Preissteigerungen und ausgeweiteter Produktion mit über
166 Milliarden Euro im Vergleich zu 2020 mehr als vervierfacht.
## „Feindliche Politik gegenüber der Natur und dem Klima“
Oslo forciere mit der jetzigen Expansion „seine feindliche Politik
gegenüber der Natur und dem Klima“, kritisiert Greenpeace: „Die
Støre-Regierung gießt Benzin ins Feuer der Klimakrise.“ Die neuen Lizenzen
erwärmten die Erde und verzögerten den Übergang von fossilen Brennstoffen
zu erneuerbaren Energiequellen.
Und man erinnert daran, dass „das UN-Klimapanel und die Internationale
Energieagentur sich einig sind, dass es keinen Platz für neue Projekte für
fossile Brennstoffe gibt, wenn die Welt das Klimaziel erreichen soll“. Die
Öllizenzen verursachten „großes Leid für Menschen auf allen Kontinenten,
bedrohen gefährdete Arten und Ökosysteme und verstärken das extreme Wetter,
das wir bereits erleben“, sagt Nowegens Greenpeace-Chef Frode Pleym, die
Koalition aus Sozialdemokraten und Zentrumspartei handele „skandalös“.
Von „bodenloser Heuchelei“ spricht der Naturschutzverband. Sofie Marhaug,
energiepolitische Sprecherin der Linkspartei „Rødt“, wirft der Regierung
vor, sie halte sich nicht an ihre eigenen Versprechen. „Klima und Natur
setzen den Rahmen für alle Politik“, heisse es im Regierungsprogramm. In
der Praxis tue man aber genau das Gegenteil.
## Lange Vorlaufzeit
Eine Produktion aus den Öl- und Gasfeldern, für deren Erkundung und
Erschließung man jetzt neue Lizenzen erteilt, könnte vermutlich frühestens
ab Mitte bis Ende der 2030er Jahre in Gang kommen. Solche Projekte haben
eine lange Vorlaufzeit. Beispielsweise werden beim Irpa-Gasfeld, dem
nächsten größerem neuen Gasvorkommen im Nordatlantik, das ab 2026 liefern
soll, von Erkundung bis Produktionsbeginn 17 Jahre vergangen sein.
Anders als Oslo suggeriert, werden neue Fundstätten also gar nichts zur
Entspannung bei aktuellen Versorgungsengpässen beitragen. Wofür die
norwegische Regierung mit neuen Lizenzen in Wirklichkeit plant, ist eine
Verlängerung der Öl- und Gasförderung weit über das Jahr 2050 hinaus. Und
damit das Gegenteil dessen, was die Internationale Energieagentur (IEA) in
ihrem 2021 erschienenen Bericht „[1][Net Zero by 2050]“ fordert: einen
sofortigen Verzicht der Suche nach neuen Öl- und Gasvorkommen. „Die
Regierung in Oslo gibt keine Antwort auf die Klimakrise, sondern führt
Norwegen auf eine falsche Bahn“, konstatiert deshalb auch Sofie Marhaug von
den Linken.
Die IEA und die Vereinten Nationen waren vor zwei Jahren nicht die einzigen
Institutionen, die die Forderung nach einem Moratorium erhoben hatten. Dem
schloss sich damals auch die EU-Kommission an.
Bei der Vorstellung der „Arktischen Strategie“ der Union bezeichnete die
Kommission im Oktober 2021 die 2020er Jahre als „[2][das entscheidende
Jahrzehnt im Kampf gegen die Klima- und Biodiversitätskrise]“. „Keep it in
the ground“ appellierte der EU-Umweltkommissar Virginijus Sinkevičius
seinerzeit auch an die Adresse Oslos. Man kündigte an, mit
Nicht-EU-Mitgliedsländern wie Norwegen im Hinblick auf eine „multilaterale
rechtliche Verpflichtung“ verhandeln zu wollen, damit die Suche nach neuen
Öl- und Gaslagerstätten in der Arktis „oder angrenzenden Regionen“ gestop…
und so der Handel mit „dort produzierten Kohlenwasserstoffen“ beendet
werden würde.
## Oslo wird regelrecht angefeuert, Lagerstätten zu erschließen
Von so einer Forderung ist nichts mehr zu hören. Im Gegenteil. Acht Monate
später, in einem Statement, das im Juni 2022 nach einem Treffen des
norwegischen Ölministers Aasland mit Frans Timmermans, dem
Vize-Vorsitzenden der EU-Kommission und der EU-Energiekommissarin Kadri
Simson [3][veröffentlicht] wurde, wird Oslo regelrecht angefeuert, so viel
neue Lagerstätten fossiler Brennstoffe zu erkunden und zu erschließen wie
nur irgend möglich.
Mit Hinweis auf die Wünsche aus Brüssel verteidigt sich die norwegische
Regierung nun auch gegen die Kritik von KlimaschützerInnen. Die
Erschließung neuer Fundstätten in arktischen Gewässern sei nicht allein für
„unser Land und die Region, sondern auch für Europa wichtig“, sagt der
Erdöl- und Energieminister: „Wir werden die verantwortungsvolle und
langfristige Bewirtschaftung der Öl- und Gasressourcen fortsetzen.“ Dazu
gehöre eben auch die stetige Ausgabe neuer Lizenzen: „Die Fortsetzung der
jährlichen Lizenzierungsrunden ist eine Säule unserer Erdölpolitik.“
Sorgen bereiten UmweltschützerInnen nicht nur die Folgen für das Klima. Mit
den neuen Lizenzen könnte Ölförderung noch weiter nördlich erlaubt werden,
als sie bislang schon weltweit stattfindet. Oslo hält Förderaktivitäten bis
zur „Eiskante“ für vertretbar, der Übergangszone zwischen dem arktischen
Packeis und dem offenen Meer, in dem aber auch Treibeis vorkommt. Die
dortigen Gewässer sind eine biologisch sehr aktive Zone. Sie liefern
wichtige Nahrungsgründe für einen Grossteil des Lebens in der Barentsee und
gelten als „Kinderstube“ für viele Fischarten. Eine Ölpest hier, Hunderte
von Kilometern vom Festland und der Infrastruktur zur Bekämpfung eines
Ölaustritts entfernt, könnte katastrophale Folgen auf das Ökosystem haben.
10 Feb 2023
## LINKS
[1] https://iea.blob.core.windows.net/assets/beceb956-0dcf-4d73-89fe-1310e3046d…
[2] https://ec.europa.eu/commission/commissioners/2019-2024/sinkevicius/announc…
[3] https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/statement_22_3975
## AUTOREN
Reinhard Wolff
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