# taz.de -- Kasachisches Essen: Ziemlich nah am Paradies | |
> Unsere Autorin stammt aus Kasachstan, oft vermisst sie das Essen ihrer | |
> Mutter. Eine Reise nach Karaganda wird zum kulinarischen | |
> Erweckungserlebnis. | |
Bild: Kasachstan, das Land, in dem Honig und Kamelmilch fließen | |
Als Kind von Migranten habe ich ein Problem. Sobald ich mein familiäres | |
Umfeld verlasse, sobald ich die 600 Kilometer gefahren bin, die mein | |
aktuelles Zuhause von meinem Elternhaus in Bayern trennen, bin ich 600 | |
Kilometer entfernt von dem Essen meiner Mutter, meinem Lieblingsessen | |
forever and ever. | |
Auch deswegen dauert mein Abnabelungsprozess noch an. Ich telefoniere fast | |
täglich mit meiner Mutter. Das sind schöne Gespräche, oft auf dem Weg von | |
der Arbeit nach Hause. Ich bin hungrig, müde. Meine Mutter klimpert | |
nebenbei mit Geschirr oder gibt ihrer Küchenhilfe, meinem Vater, | |
Anweisungen im Flüsterton. | |
Nachdem ich aufgelegt habe, ist es, als wandere mein Bewusstsein wieder vom | |
Ohr in die Augen: Die Geräusche aus der Küche meiner Mutter sind weg, ich | |
sehe das nasse Berliner Pflaster, die Imbissbuden und Restaurants. Nichts | |
davon will ich, alles ist falsch. Leider habe ich auch nicht gelernt zu | |
kochen. Leider will ich es auch nicht lernen. | |
Es könnte auch Kindern von Nichtmigranten so gehen, klar. Aber die finden | |
in ihrer Umgebung zumindest Orte, an denen versucht wird, das Essen ihres | |
Zuhauses nachzuahmen. Oder sie finden im Supermarkt halbfertige Bausteine | |
für das Gericht, nach dem sie sich sehnen. Schupfnudeln aus der Tüte und | |
Sauerkraut aus der Dose zum Beispiel. | |
Es könnte auch Kindern von Migranten nicht so gehen, wenn ihre Eltern aus | |
Italien sind oder aus China oder Vietnam. Aber ich glaube, so richtig viel | |
hat das, was man in chinesischen oder vietnamesischen Restaurants findet, | |
nicht mit dem Essen jener Länder zu tun. [1][Italien ist vielleicht eine | |
Ausnahme]. Ich frage mal meine italienisch-deutsche Freundin. | |
## Hering unterm Pelzmantel – ist das nicht elegant? | |
Meine Eltern kommen aus Kasachstan. Die Leute in Kasachstan kochen Plov | |
(ein Reisgericht mit Fleisch und, wenn man mag, Trockenfrüchten), | |
Beschbarmak (das kasachische Nationalgericht: Fleisch, Nudeln, Zwiebeln, | |
Brühe. „Besch“ bedeutet fünf, „barmak“ heißt Finger. Man isst dieses | |
Gericht also traditionellerweise mit den Händen), Seljodka pod schuboi (ein | |
Schichtsalat mit Fisch. Wörtlich übersetzt: Hering unterm Pelzmantel – ist | |
das nicht elegant?), Blini (Pfannkuchen), Tschebureki (gebratene | |
Teigtaschen) und noch viele weitere Teigtaschen in unterschiedlicher | |
Faltung, Füllung und Größe: Pelmeni, Wareniki, Manti … Insgesamt gibt es | |
viel mit roter Bete, Dill, Schmand und viel Fleisch, gutes Fleisch. | |
Kasachstan ist ein multiethnisches Land: Es wird kasachisch gekocht, aber | |
auch russisch, koreanisch, deutsch, uigurisch. Jeder macht ein bisschen von | |
allem. Multiethnisch ist Kasachstan deswegen, weil Josef Stalin in seiner | |
Paranoia viele Minderheiten dorthin deportieren ließ, weit weg in die | |
Steppe. Zuvor hatten die Sowjets die nomadisch lebenden Kasachen gezwungen, | |
sesshaft zu werden und ihr Wirtschaftssystem zu übernehmen. | |
Auf Enteignung und Kollektivierung folgte eine Hungersnot, ein Drittel der | |
Bevölkerung starb. Dann wurden vor allem Russen und Ukrainer in Kasachstan | |
angesiedelt, um das Land zu bewirtschaften. Dabei halfen Millionen von | |
Zwangsarbeitern, Deportierten, darunter auch meine Vorfahren. Die Kasachen | |
wurden zur Minderheit in Kasachstan. | |
Es wird recht düster, wenn man sich mit der Geschichte Kasachstans im 20. | |
Jahrhundert beschäftigt. Und ich habe noch nichts von den sowjetischen | |
Atomtests erzählt. Umso erstaunlicher ist es, dass Kasachstan heute damit | |
wirbt, das Zuhause von etwa 50 Ethnien zu sein. Inzwischen sind die | |
Kasachen wieder in der Mehrheit. | |
Im September fuhr ich nicht 600 Kilometer zu meinen Eltern, sondern 6.000, | |
in meine kasachische Geburtsstadt Karaganda. Ich habe einen Monat lang dort | |
gearbeitet, für eine Reportage recherchiert, auch in den düstersten | |
Kapiteln der Geschichte. Ich verbrachte meine Tage damit, Interviews zu | |
führen, die oft in Küchen stattfanden, in denen Tee getrunken und gegessen | |
wurde. Es war anfangs gar nicht so leicht, professionell zu wirken, wenn | |
die Interviewpartnerin plötzlich frische Piroschki mit Apfelfüllung | |
anbietet. | |
## Vorbeischlendern an Stuten- und Kamelmilch | |
Abends spazierte ich oft durch den Supermarkt, der meiner Wohnung am | |
nächsten lag. Ich fand das beruhigend. In Deutschland versuche ich immer, | |
den Einkauf so schnell wie möglich abzuhaken. Bei der Frage, ob ich den | |
Kassenzettel nun will oder nicht, bin ich schon längst losgerannt. | |
In meinem kasachischen Supermarkt schlenderte ich vorbei an einem | |
Milchregal, in dem auch Stuten- und Kamelmilch ihren Platz haben; an | |
Dutzenden Sorten von Smetana (Schmand); an einer meterlangen Tiefkühltruhe | |
voller unterschiedlicher Teigtaschen, russischer, kasachischer, | |
georgischer, tatarischer … Man musste nur die Handschaufel nehmen und sich | |
welche abfüllen – das kommt meiner Vorstellung vom Paradies schon ziemlich | |
nah. | |
In meinem Supermarkt, der kein besonderer Supermarkt war, gab es außerdem | |
eine sehr, sehr lange Theke mit Speisen, die schon fertig sind, frisch | |
zubereitet. Und nicht überwürzt, überfettet oder überteuert wie in | |
Deutschland. | |
Koreanisches Kimchi, Seetang und Salate mit rohem Fisch lagen da ganz | |
selbstverständlich neben deutschem Kartoffelsalat. Außerdem gedünstetes | |
Gemüse, eingelegte Pilze, Sauerkraut, die Gerichte, die ich von Zuhause | |
kannte. Es kam mir vor wie ein Wunder. Das Essen meiner Mutter – ich konnte | |
es kaufen! Die Sache, die Sehnsucht, sie ließ sich mit Geld lösen. | |
## Nachmittags glotzen und Borschtsch schlürfen | |
Natürlich kocht meine Mutter besser als die Supermarktdamen mit den weißen | |
Häubchen. Natürlich habe ich meine Mutter auch aus Kasachstan angerufen, | |
obwohl ich satt und glücklich war. Ich erzählte ihr von meinen | |
Spaziergängen im Supermarkt und davon, wie andere den Borschtsch | |
zubereiten. Es war plötzlich ganz leicht, darüber zu reden. | |
Borschtsch kann etwas Alltägliches sein, lernte ich. Ich muss nicht immer | |
wehmütig werden, wenn ich an ihn denke. Aber na ja, ich neige zur | |
Melancholie. In den ersten Tagen meiner Recherche in Kasachstan stellte mir | |
eine Frau, die ich interviewte, einen Teller Borschtsch neben das | |
Aufnahmegerät. Erst nach dem Essen wollte sie weiterreden. | |
Sie sprach ein Gebet, dann löffelten wir leise. Ich erinnerte mich daran, | |
wie meine Mutter abends in der Küche stand und den Borschtsch vorkochte, | |
damit mein Bruder ihn für uns Geschwister nach der Schule aufwärmen konnte. | |
Die Eltern waren arbeiten, meine Brüder und ich setzten uns mit dem Teller | |
Suppe auf das Sofa, vor die Glotze, und zogen uns das Nachmittagsprogramm | |
rein. Es war herrlich. Wenn „Das Jugendgericht“ anfing, waren die roten | |
Brüheflecken und die weißen Smetanatupfer am Tellerrand längst getrocknet. | |
Wenn „Das Jugendgericht“ zu Ende war, wurde es Zeit, auf sein Zimmer zu | |
gehen, um den Eltern, wenn sie heimkamen, vorzuspielen, dass man dort die | |
ganze Zeit über fleißig gelernt hatte. | |
Und dann gab es auch schon bald Abendessen. | |
4 Dec 2019 | |
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## AUTOREN | |
Viktoria Morasch | |
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