| # taz.de -- Israel und Linke: Deutsche Gefühlserbschaften | |
| > 50 Jahre nach dem Tod von Benno Ohnesorg und dem Sechstagekrieg: ein | |
| > kleiner Leitfaden durch das Gewirr linker Projektionen. | |
| Bild: Der Drang, Nahost als Projektionsfläche zu nutzen, wuchert wie Efeu | |
| Der Schriftsteller Günter Grass trat am 3. Juni 1967, kurz bevor der | |
| Sechstagekrieg begann, in der FU Berlin auf. Ein paar tausend Studenten | |
| waren dort, wütend, erschüttert, fassungslos nach den Schüssen auf Benno | |
| Ohnesorg. Es herrschte Demonstrationsverbot. Im Abgeordnetenhaus wurden die | |
| Studenten wahlweise als wahre Täter oder neue Nazis beschimpft. Eine | |
| Karikatur in Springers BZ zeigte die Studenten später als SA-Mob, der den | |
| Springer Verlag attackierte – womit der Verlag sich in die Rolle der Juden | |
| versetzte. | |
| Grass wollte, dass die Studenten sich mit dem „bedrohten Israel“ | |
| solidarisieren. Die politische Linke war bis in die 60er Jahre für Israel | |
| eingenommen, dessen Kibbuze als Basissozialismus galten. Doch die Studenten | |
| interessierten sich nicht für die traditionslinke Pro-Israel-Haltung von | |
| Grass. Der 2. Juni 1967, Katalysator der Neuen Linken, war Beginn eines | |
| tragischen, moralisch abgründigen Spiels mit Projektionen. | |
| Zur Umkehrung der Pole führten die beiden zeitgleichen Ereignisse: der | |
| staatlicherseits anfangs vertuschte, später von der Justiz ungesühnte Tod | |
| von Ohnesorg und der Sechstagekrieg, mit dem sich Israel als | |
| Besatzungsregime und militärische führende Macht in der Region etablierte. | |
| Boulevardmedien feierten den israelischen General Dajan als neuen Rommel, | |
| und Israel, das deutsche Rechte zuvor eher lästig fanden, als Vorposten | |
| westlicher Zivilisation. Das war Ausdruck der Überidentifikation mit den | |
| USA, der Macht, die nach 1945 den Westdeutschen die Strafe für die | |
| NS-Verbrechen erspart und Berlin zur demokratischen Frontstadt gemacht | |
| hatten. | |
| So sah der bigotte Kompromiss des Postfaschismus 1967 aus: Kanzler und | |
| Bundespräsident waren mehr als nur Mitläufer im NS-Reich gewesen. In | |
| Industrie, Ministerien, Verwaltung und Justiz arbeiteten unbehelligt | |
| Tausende in Schlüsselpositionen, die auch überzeugt dem NS-Regime gedient | |
| hatten. Die Volksgemeinschaft existierte mental noch. Der Witwe von Benno | |
| Ohnesorg schrieb zum Beispiel ein Westberliner: „Liebe Frau Ohnesorg. Der | |
| Tod ihres Mannes kann nur noch einen Sinn machen, wenn es Ihnen gelingt, | |
| dem Kind, das Sie erwarten, klarzumachen, dass sein Vater ein | |
| Fehlentwickler war.“ Die Trennwände zur NS-Zeit waren im Empfinden vieler | |
| Rebellen aus Papier. | |
| ## Antiimperialismus dient als Schablone | |
| Ulrike Meinhof schrieb im Juni 1967 scharfsinnig: „Bild gewann in Sinai | |
| endlich, nach 25 Jahren, doch noch die Schlacht von Stalingrad. Nicht die | |
| Erkenntnis der Menschlichkeit der Israelis, sondern die Härte ihrer | |
| Kriegsführung, nicht die Einsicht in die eigenen Verbrechen, sondern der | |
| israelische Blitzkrieg führte zu fragwürdiger Versöhnung.“ Zudem | |
| verteidigte Meinhof uneingeschränkt das Existenzrecht Israels und schrieb | |
| hellsichtig, dass auch in der Linken „vernünftige, politische Lösungen in | |
| Nahost von pro- und anti-israelischem Freund-Feind-Denken erdrückt zu | |
| werden drohen“. | |
| Keine Figur verkörperte den moralischen und intellektuellen Bankrott von | |
| Teilen der Neuen Linken so wie Meinhof. 1972 adelte sie als RAF-Gefangene | |
| den Terroranschlag des Schwarzen September auf israelische Sportler in | |
| München als Tat, an der sich die westdeutsche Linke ein Beispiel nehmen | |
| müsse. Diesen Schwenk ermöglichte ein schablonenhafter Antiimperialismus, | |
| demzufolge Vietcong, RAF und Fatah gegen den gleichen Feind kämpften: die | |
| westlichen Metropolen. Was diesem planen Schwarz-Weiß-Bild nicht entsprach, | |
| wurde planiert. | |
| ## Wie konnten Teile der Bewegung das Augenmaß verlieren? | |
| Es gab, wie Wolfgang Kraushaar in verdienstvollen, mitunter allzu | |
| zugespitzten Studien gezeigt hat, einen originär mit der Neuen Linken | |
| verknüpften Antisemitismus. Allerdings war der extreme Antizionismus in | |
| der Bewegung nie mehrheitsfähig. Dieter Kunzelmann scheiterte 1969 mit dem | |
| Versuch, die Meinungsführerschaft in der militanten Bewegung zu erobern mit | |
| der Parole, dass „unser Vietnam Palästina“ und der „Judenknacks“ der | |
| deutschen Linken zu überwinden sei. | |
| Trotzdem fragt sich, warum Teile einer Bewegung, die intellektuell an der | |
| Kritischen Theorie geschult war, jedes Augenmaß verlieren konnte. Sie hatte | |
| ein libidinös besetztes Verhältnis zu Analysen, Geschichte war in ihrem | |
| Denken eine Schlüsselkategorie. Vordenker – von Herbert Marcuse über Ernst | |
| Bloch bis zu Jean-Paul Sartre – warnten stets, den Stab über Israel zu | |
| brechen. Warum rasten Teile der Neuen Linken blindlings in die Falle des | |
| identitätspolitisch aufgeladenen Freund-Feind-Denkens in Sachen Israel, die | |
| Meinhof 1967 noch so luzide beschrieben hatte? | |
| Offenbar weil es seit dem Schock des 2. Juni 1967 dem Selbstverständnis der | |
| Bewegung entsprach, das Gegenteil der bigotten Mehrheit zu verkörpern. Die | |
| war US-treu bis zur Blindheit, autoritär verfasst und Israel-begeistert. | |
| Die Neue Linke war US-kritisch, antiautoritär, israelkritisch, an den | |
| Rändern bis zum Hass. Dieses Reiz-Reaktions-Schema von Mehrheit und | |
| Minderheit war auch da nicht aufzusprengen, wo es nötig gewesen wäre. Etwa | |
| durch die naheliegende Erkenntnis, dass Israel nicht bloß ein | |
| Flugzeugträger des US-Imperialismus war. | |
| ## Ein Spiegelungsprozess zwischen den Generationen | |
| Sigmund Freud schreibt in „Totem und Tabu“, dass zwischen Generationen | |
| „Gefühlserbschaften“ existieren. Das ist sandiges Terrain für alle, die a… | |
| Kausalketten aus sind. War die antizionistische Wende von Teilen der Neuen | |
| Linken eine Art insgeheime, unbewusste Nachahmung und Inschutznahme der | |
| Eltern, ein Versuch, deren rigoros beschwiegene Taten zu entschuldigen? Das | |
| klingt faszinierend, aber auch recht flirrend. Es mangelt an Indizien. | |
| Sicher ist, dass für die Nachgeborenen im bundesdeutschen Familienroman die | |
| Rolle der schweigenden Mitwisser vorgesehen war. Die Revolte, die am 2. | |
| Juni 1967 an Fahrt gewann, war der symbolische Bruch damit. Doch die | |
| psychodynamische Verwicklung, der Spiegelungsprozess zwischen den | |
| Generationen, war damit nicht unterbrochen, nur verschoben. | |
| Diese neurotische Spannung scheint sich fünfzig Jahre danach entladen zu | |
| haben, wenn auch keineswegs vollständig. Ein letztes Echo sind ein paar | |
| ex-linke Publizisten, die es zum Geschäftsmodell gemacht haben, | |
| Abweichungen von Pro-Israel- und USA-Haltungen mit dem Hammer zu | |
| bearbeiten. Das Handwerkszeug dafür konnte man offenbar in maoistischen | |
| Sekten lernen. | |
| ## Guter (Anti-)Deutscher? Nahost entscheidet | |
| Auch bei Antideutschen (oder deren Resten) findet man die Sehnsucht nach | |
| beruhigenden Gut-Böse-Zuschreibungen, wobei nun, spiegelverkehrt zum | |
| antizionistischen Flügel der 68er, USA und Israel als Helden auftreten. | |
| Andere Rollen, gleiches Spiel. | |
| Das mag man für eine Marotte halten. Schon das Gründungsmotiv der | |
| Antideutschen – der Kampf gegen das „Vierte Reich“ 1990 – verriet ja we… | |
| historischen Weitblick. Betrüblich ist aber, wenn zum Beispiel in der taz | |
| Sigmar Gabriel in Nähe des Antisemitismus gerückt wird, weil er lieber eine | |
| militärkritische Organisation wie „Breaking the Silence“ trifft als sich | |
| von Netanjahu das Besuchsprogramm vorschreiben zu lassen. Der Drang, Nahost | |
| als Projektionsfläche zu nutzen, um sich als guter Deutscher (oder | |
| Antideutscher) zu profilieren, scheint wie Efeu zu sein: Er wuchert immer | |
| weiter. Es wäre überhaupt erfreulich, wenn, wer unbedingt was Extremes, | |
| Steiles, Schrilles schreiben will, sich mit Helene Fischer, Mülltrennung | |
| oder Moldawien befassen würde. | |
| ## Solidarität und Kritik | |
| Dass 50 Jahre Besatzung auch die israelischen Besatzer korrumpiert haben, | |
| ist fast zu banal, um es zu erwähnen. In der israelischen Demokratie gibt | |
| es zunehmend autoritäre Tendenzen und ein verfestigtes, apartheidartiges | |
| System. Gabriels Auftritt war ein Zeichen, dass die offizielle | |
| bundesrepublikanische Politik sich mehr kritische Solidarität als früher | |
| zutraut. | |
| Der Linkskatholik Walter Dirks schrieb 1973, dass „die Grundsympathie für | |
| Israel, die als tiefste Motivation alles andere färbt, das Recht zur Kritik | |
| einschließt“. Dirks, der sich selbst als Philosemit bezeichnete, hatte als | |
| Zeitgenosse des NS-Regimes das verständliche Gefühl, mit Kritik mehr als | |
| zurückhaltend sein zu müssen. Die deutsche Linke sollte das Verhältnis von | |
| Solidarität und Kritik nach 50 Jahren Besatzung und systematischem | |
| Siedlungsbau anders austarieren: Grundsympathie für Israel und | |
| entschlossenes Engagement für Menschen- und Bürgerrechte in Israel und | |
| Palästina. Das wäre nicht die schlechteste Konsequenz aus dem Rückblick auf | |
| die eigene Geschichte, auf Selbstüberhöhungen, moralische Debakel und | |
| Projektionen. | |
| 6 Jun 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Stefan Reinecke | |
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