# taz.de -- „Islamischer Staat“ aus Libyen verdrängt: Spuren der Schlacht … | |
> Der Versuch des IS, über libysche Städte eine Brücke nach Afrika zu | |
> errichten, ist gescheitert. Doch damit sind Libyens Probleme nicht | |
> gelöst. | |
Bild: 6. Dezember 2016: Ein Milizionär hisst die libysche Flagge in Sirte nach… | |
Tripolis taz | Als der „Islamische Staat“ in Sirte vor zwei Jahren die | |
Kontrolle übernahm, wusste Jamal, dass es jetzt ums Überleben geht. Für | |
Kämpfer libyscher Revolutionsbrigaden wie Jamal war die Eroberung der | |
300.000-Einwohner-Stadt am Mittelmeer, von der aus Diktatur Gaddafi sein | |
Land vier Jahrzehnte lang faktisch regiert hatte und wo er schließlich | |
starb, im Oktober 2011 der Höhepunkt ihres Sieges über Gaddafi gewesen. Der | |
Verlust an den IS im Jahr 2015 war eine Schmach. | |
Jamal trägt seit 2011 abwechselnd Uniform und Anzug. Er kommandiert eine | |
zusammengewürfelte Truppe von Milizionären aus Misrata und erzählt vom | |
monatelangen Häuserkampf des vergangenen Jahres, um Sirte zurückzuerobern | |
und die geschätzt 3.000 Kämpfer des IS zu vertreiben. Über 500 Tote und | |
3.000 Verletzte kostete der Sieg – und die Zerstörungen in Sirte kosteten | |
die Misrata-Milizen die letzten Sympathien mit der Revolution unter | |
Gaddafi-Anhängern. | |
„Wir sind kriegsmüde“, sagt Familienvater Jamal in perfektem Deutsch. „D… | |
Blutvergießen muss endlich ein Ende haben.“ Im Detail berichtet er von der | |
Schlacht um Sirte. „Autobomben, Sprengstoffgürtel unter Gewändern der sich | |
ergebenden Frauen, ich werde diese Bilder wohl nie mehr los“, sagt Jamal in | |
der Leichenkammer des Zentralkrankenhauses der libyschen Hauptstadt | |
Tripolis. | |
Angeblich über 250 Leichen lagern nun in den Kühlhäusern von Tripolis: | |
IS-Kämpfer mit tunesischen, sudanesischen oder ägyptischen Pässen, die im | |
Kampf gefallen sind. | |
## „Es gibt nur einen Gott“ | |
Im Gefängnis von Misrata warten außerdem zwangsverheiratete Frauen, meist | |
Migranten aus Eritrea, vergeblich auf die Rückkehr in ihre Heimat. Die über | |
Sudan eingereisten Migrantinnen waren an IS-Kontrollpunkten von den | |
Lastwagen geholt und IS-Kämpfern überlassen worden, berichtet Jamal. „Jetzt | |
sind sie und ihre Kinder staatenlos.“ | |
Für die toten IS-Kämpfer und ihre lebenden Hinterbliebenen fühlt sich | |
niemand zuständig, klagt Jamal. Schon im Kampf gegen den IS fühlte sich | |
Jamal und seine Brigade von der Regierung in der Hauptstadt Tripolis | |
verraten. „Es gab weder genügend Munition noch Platz in den Krankenhäusern | |
für die vielen Verwundeten.“ Auch jetzt fehlt es ihm an Anerkennung. „Wir | |
haben Europa vor dem IS gerettet und nichts dafür bekommen. Jetzt lässt man | |
uns auch noch mit den Folgen des Krieges gegen den IS alleine.“ | |
Darüber, wie die jungen Kämpfer aus Misrata mit den gefangenen IS-Witwen | |
umgehen, will Jamal lieber nicht sprechen. Wie die jungen Männer aus | |
Misrata mit Libyens Zerfall umgehen, zeigt ein Konvoi von einem Dutzend | |
Jeeps, der auf der Hauptstraße von Tripolis auf und ab fährt. Die | |
islamischen Symbole und Flaggen darauf ähneln denen des IS. „Es gibt nur | |
einen Gott“ steht auf einigen Bannern. | |
Den Krieg habe der IS verloren, sagt Jamal, aber: „Viele meiner Kämpfer | |
wenden sich jetzt den Salafisten zu.“ Religiös und finanziell aus | |
Saudi-Arabien unterstützt, können die zumindest eine Perspektive bieten, | |
sagt der 19-jährige Mohamed, nachdem er von der Ladefläche des Toyota-Jeeps | |
in Tarnlackierung springt und seinen ehemaligen Vorgesetzten Jamal mit | |
einem Handschlag begrüßt. | |
## Respekt und Furcht vor der Rada-Truppe | |
Der IS in Libyen gilt immerhin als geschlagen. Mit der Niederlage in Sirte | |
ging den rund 5.000 Libyen-Kämpfern des „Islamischen Staates“ der 180 | |
Kilometer lange libysche Küstenstreifen verloren, den sie im Auftrag der | |
Strategen im syrischen Rakka erobert hatten, als Brückenkopf für die | |
geplante Expansion des IS nach Afrika. | |
Sabratha, ihren zweiten libyschen Stützpunkt weiter westlich, hatten die | |
Extremisten 2012 ausgewählt, damals noch unter dem Namen „Ansar Sharia“. | |
Der für seine römischen Ruinen berühmte Küstenort verbindet die Hauptstadt | |
Tripolis mit der tunesischen Grenze. Über Sabratha konnten Kämpfer aus | |
Tunesien zum IS stoßen – und Migranten aus Afrika Richtung Europa | |
losziehen, ein Geschäft, an dem der IS mitverdiente. Erst ein | |
US-Luftangriff im Februar 2016 mit 66 Toten und die nachfolgende Schlacht | |
mit den lokalen Milizen beendete die Kontrolle durch die Radikalen. | |
Ebenso wie in Sirte sind jetzt im Westen Libyens die langfristigen | |
Nutznießer des Sieges über den IS aber vor allem salafistische Kräfte – und | |
auf die setzen nun auch die UN, um die Regierung Serraj in Tripolis an der | |
Macht zu halten. Jede Miliz, die in dem Gewirr in Tripolis mit eigenen | |
Checkpoints und einem gewissen Organisationsgrad aufwarten kann, wird von | |
der sogenannten Einheitsregierung und den internationalen Diplomaten | |
umgarnt. | |
Eine davon ist die sogenannte Rada-Truppe, eine Art ultrakonservative, | |
salafistische Bürgerwehr, die im Stadtviertel Suk Al Juma das Sagen hat. In | |
den Cafés der libyschen Hauptstadt wird über die rund 1.000 Mann des | |
Rada-Chefs Abdulrauf Kara nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen, mit | |
Respekt und Furcht. | |
## Auf keinen Fall zurück nach Tunesien | |
Drogenbosse, Kriminelle, Extremisten und politische Aktivisten sitzen im | |
Gefängnis der Salafisten ein, in denen die kurzgeschorenen Gefangenen durch | |
Koranstudium und Strenge auf den rechten Weg gebracht werden sollen. Karas | |
Leute, meist aufgedrehte junge Männer, fackeln nicht lange. UN-Emissäre | |
setzen auf den 34-jährigen streng dreinschauenden „Scheich“, um Premier | |
Serraj zu unterstützen. Der Chef der Einheitsregierung versteckt sich | |
jedoch noch immer abends hinter den Mauern einer Marinebasis im Hafen von | |
Tripolis vor den Milizen, die ihn schützen sollen. | |
Journalisten empfängt Kara gerne, denn er sieht sich auf der richtigen | |
Seite im Milizen-Krieg um Libyens Hauptstadt. 15 Tunesierinnen sitzen bei | |
seiner Truppe als Gefangene ein, freiwillige oder gezwungene Ehefrauen von | |
gestorbenen IS-Kämpfern. Kara will die in Sabratha geretteten Frauen an die | |
tunesischen Behörden übergeben. „Denn hier können wir nichts mit ihnen | |
anfangen. Viele haben Kinder, die wie die Frauen unschuldig sind.“ | |
Aber zurück nach Tunesien wollen die Frauen auf keinen Fall. Mabrouka sitzt | |
mit vier anderen Frauen in einem stickigen Raum auf einer Bank. Durch ein | |
kleines Fenster unter der Decke füllt die Sommerhitze von draußen den Raum, | |
im Gebäude hallt Kindergeschrei. Der Tunesierin gelingt ein Lächeln, als | |
sie vom letzten Besuch aus der Heimat erzählt: Eine tunesische | |
Parlamentsdelegation, die die Gefangenen abholen sollte, kam im April – | |
aber sie weigerte sich, die Identität und Staatsbürgerschaft der | |
Tunesierinnen anzuerkennen. Als Abdulrauf Kara seinerseits eine informelle | |
Übergabe ohne Papiere ablehnte, ging die Delegation wieder. Die IS-Frauen | |
blieben. | |
„Ich will nicht nach Tunis zurück“, flüstert die 32-jährige Mabrouka, | |
während ihr Sohn auf ihrem Schoß schläft. „Ich bin voll und ganz von dem | |
überzeugt, was ich getan habe. Nur wegen meines Kopftuches und der | |
Religiosität meiner Familie bin ich im Gefängnis gelandet.“ | |
## „Was sollen wir mit den Frauen machen?“ | |
Im libyschen Milizengefängnis geht es ihr möglicherweise besser als in der | |
Heimat. Willkür und Folter in tunesischen Gefängnissen dokumentierte Human | |
Rights Watch im Februar. | |
Mabrouka lernte in der Haft Frauen von radikalen Imamen kennen, die aktiv | |
junge Tunesierinnen für den Dschihad in Syrien und Libyen angeworben | |
hatten. „Vor der Zeit im Gefängnis ging ich kaum in die Moschee, jetzt | |
glaube ich, dass ein islamischer Staat ohne Grenzen die Lösung für alle | |
Probleme in der Region ist.“ | |
„Was sollen wir mit den Frauen denn machen?“, witzelt einer der Wärter, | |
Ahmed, ein bärtiger Riese. „Sie haben sich ja direkt keiner Straftat | |
schuldig gemacht.“ | |
Immerhin: Sieben Waisenkinder aus dem Sudan konnten letzte Woche in ihre | |
Heimat zurückkehren. Ihre Eltern waren von IS-Kämpfern entführt worden und | |
bei den Kämpfen ums Leben gekommen. Der sudanesische Botschafter nahm die | |
Kinder am vorletzten Sonntag im Rahmen einer Zeremonie im Bürgermeisteramt | |
entgegen. | |
Ein paar Tage danach starben elf Soldaten der Armee bei einem Hinterhalt | |
des IS in Zentrallibyen. „Es ist noch nicht vorbei“, warnt Jamal, der | |
enttäuschte Sirte-Kämpfer aus Misrata. Und auch der salafistische | |
Milizenchef Kara meint: „Der IS hat Libyen schon früh als eine Art | |
Bankautomat und Trainingscenter für die Expansion in die Nachbarländer und | |
das nach Europa angesehen. Dabei bleibt es auch, wenn die Männer die | |
Herrschaft über zusammenhängende Gebiete verloren haben. Sie wissen die | |
Zeit und das Chaos an ihrer Seite.“ | |
1 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Mirco Keilberth | |
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