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# taz.de -- Interview mit Jesuitenpater Klaus Mertes: „Männlich geprägte Lo…
> Pater Klaus Mertes im Gespräch. Über die Folgen des Missbrauchsskandals,
> Sexualität und warum die katholische Kirche ein Global Player bleibt.
Bild: „Ein glückliches Leben mit Garantiestempel? Daran habe ich nie geglaub…
Er lebt in Berlin-Charlottenburg in einer WG mit fünf anderen Glaubens- und
Ordensbrüdern der Jesuiten. Er empfängt uns mit fröhlichem Gemüt, wie er
eben seit Jahren so bekannt ist: Ein Katholik, der als Lehrer und Rektor am
Berliner Canisius-Kolleg wesentlich dazu beitrug, die Frage der
s[1][exuellen Gewalt gegen Schutzbefohlene im katholischen Klerus]
öffentlich zu machen. Wir kommen im kleinen Aufenthaltsraum seiner WG ins
Gespräch, es gibt schönes klares Wasser und prima Kaffee.
taz: Pater Mertes, durch nichts ist die katholische Kirche vor allem in
Deutschland so in Verruf geraten wie durch die Fälle sexuellen Missbrauchs
in ihren Reihen. Sie waren vor vielen Jahren einer der Ersten, die nach
Aufarbeitung riefen. Ist diese inzwischen gescheitert?
Pater Klaus Mertes: Es ist viel geschehen, zwischendurch ist viel
gescheitert, und es gibt immer wieder Neuanfänge. Vielleicht kann man ja
bei aller Skepsis auch mal Gelungenes sehen. Vor 20 Jahren wäre es ja gar
nicht möglich gewesen, die Mauern des Schweigens zum Klingen zu bringen.
Jetzt klingen sie.
Reicht es denn nach zwölf Jahren Aufarbeitung, dass das Schweigen gebrochen
wurde?
Es sind Themen ansprechbar, die vor zehn Jahren tabu waren. In der
Prävention sind unsere Institutionen so gut aufgestellt, dass sich nun
staatliche Stellen bei uns erkundigen, wie man es macht, wenn sie selbst
Krisen zu bewältigen haben.
Aber die Missbrauchsopfer sind ja nach wie vor enttäuscht.
Ich erwarte von Missbrauchsopfern nicht, dass sie nach diesen zehn Jahren
der Aufarbeitung laut sagen, dass sie zufrieden sind. Ich lasse mich von
der Unzufriedenheit der Betroffenen weiter herausfordern, bürde ihnen aber
nicht die Verantwortung für das letzte Wort darüber auf, ob die
Aufarbeitung gelungen ist oder nicht.
Die Opfer fühlen sich nach wie vor ungerecht behandelt.
Daraus kann ich aber nicht pauschal schließen, dass die Aufarbeitung
gescheitert ist. Es geht tatsächlich um Gerechtigkeit. Aber um sie zu
finden, ist ein langer Weg zu gehen.
Wird denn genug über die systematischen Probleme gesprochen, die überhaupt
zu diesen Missbräuchen führten?
Ja. Der synodale Weg …
… der organisierte Dialog von katholischen Würdenträgern und Katholiken aus
der Laienschar …
… wäre nicht möglich, hätte es den Anstoß durch die Debatten über den
Missbrauch nicht gegeben. Wobei die systemischen Themen ja dann wiederum
über das Thema des Missbrauchs hinausgehen. Zum Beispiel das der
Frauenordination.
Wie hängt das mit dem Missbrauchsthema zusammen?
Einerseits geht es darum, männlich geprägte, hermetische Loyalitätskartelle
zu überwinden. Aber es geht eben auch darum, dass die Gleichheit von Mann
und Frau auch in den Strukturen der Kirche sichtbar werden muss, egal ob es
Missbrauch gibt oder nicht.
Gibt es, wie vonseiten vieler Kleriker behauptet, einen Zusammenhang
zwischen dem Thema Homosexualität und sexuellem Missbrauch?
Ja, aber nicht direkt. Homosexualität wurde ja homophob gewendet, indem die
Kirche jahrelang sagte: Die schwulen Kleriker sind schuld. Das war die
Strategie unter Papst Johannes Paul II: Schwule rausschmeißen aus dem
Klerus, dann, so der Fehlschluss, haben wir keinen sexuellen Missbrauch
mehr.
Wie schamlos, dass das in die Welt gesetzt wurde.
Es gibt signifikant viele Fälle von sexuellem Missbrauch, die auf
homosexuelle Ersatztaten im katholischen Klerus zurückzuführen sind. Eine
Möglichkeit zur Annahme der eigenen Sexualität und des reflektierten
Umgangs mit ihr unter den Bedingungen der katholischen Sexualmoral ist
schwer möglich. Und schwulen Priestern schon gar nicht, weil sie als solche
ausdrücklich nicht erwünscht sind.
Wie hoch schätzen Sie die Quote von schwulen Männern in der Priesterschaft?
Wenn ich mich so umschaue, habe ich das Gefühl, mindestens die Hälfte. Ich
erinnere mich, dass der Augsburger Pastoraltheologe Heinz vor 25 Jahren mal
von 20 Prozent sprach und sich für diese Offenherzigkeit dann bei der
Bischofskonferenz entschuldigen musste. Ich glaube, dass es viel mehr sind.
Woran liegt das?
Viele von meinen Lehrern, Jesuiten und anderen, die jetzt schon 100 oder
120 Jahre alt wären, waren vielleicht homosexuell, ohne es überhaupt von
sich zu wissen. Der entscheidende Unterschied ist eben heute das Wissen um
die eigene Sexualität. Ich rede von männlichen Jugendlichen, die merken,
ich bin schwul, und das wird dann verbunden mit einem Horror über sich
selbst – und dann weggedrückt. Gerade wegen ihrer Identifikation mit der
Kirche und ihrer Lehre glauben sie einen Weg zu finden, der besonders
geeignet ist, um in kirchlicher Anerkennung zu leben. Und das ist dann eben
die als asexuelle Lebensform missverstandene Lebensform des Zölibats. Und
das kann dann Probleme schaffen.
Welche?
Das erste Problem ist, dass es für jeden einzelnen der schwulen Priester in
spe ein systemisches Interesse daran gibt, möglichst systemkonform zu
bleiben – also schweigen und das eigene Liebesbegehren verleugnen. Deswegen
kommt ja die härteste Homophobie ganz oft von homosexuellen Klerikern, die
sich vielleicht sogar ihrer eigenen Homosexualität gar nicht bewusst sind.
Dann gibt es das zweite Problem, dass ich als angehender Priester zu keinem
einzigen Zeitpunkt irgendeinem Ausbilder oder den Freunden sagen kann: Ich
bin schwul.
Das ist tabu?
Durch das Ansprechen der eigenen sexuellen Orientierung gefährde ich mich
disziplinarisch, und das ist eine sehr schlechte Voraussetzung für
psychologische Reifung. Das dritte Problem ist, dass ich ja weiß, dass ich
als homosexueller Priester eigentlich nicht geweiht werden darf. Also würde
ich im Fall der Fälle, falls ich es doch schon vorher weiß und vor der
Weihe nach meinem Schwulsein gefragt werde, antworten müssen: Nein. So
basiert die Zulassung zur Priesterweihe von Anfang an auf einer Lüge. Das
verkompliziert erheblich das Verhältnis zur Autorität, der man anhängt.
Manchen wird die eigene Homosexualität erst spät, nach der Weihe, bewusst.
Ja. Und wenn ich es dann meinem Bischof sage, antwortet der: Okay, aber sag
es niemandem. Auch das ist ein großes Problem: diese Ambivalenz, wahrhaftig
leben zu wollen, aber lügen zu müssen, vielleicht mit dem Bischof einen
Schweigepakt schließen zu müssen.
Jetzt gibt es diesen schönen [2][Film mit dem Titel „OutInChurch“], in dem
auch Priester ihr Schweigen durchbrochen haben. Ist dieser Beitrag eine
Frucht der Debatten nach den Skandalen über sexuellen Missbrauch?
Zumal, wie wir auch in diesem Film sehen, es in diesem Kontext natürlich
auch um Machtfragen geht.
Der Münchner Priester Wolfgang Rothe sagt, dass die Sexualethik der
katholischen Kirche auch ein Machtinstrument ist, um Leute erpressbar zu
machen. Gerade Priester.
Ich habe erlebt, dass Priester oder Mitbrüder, die schwul sind, erpresst
werden, indem man ihnen sagt: Wenn du das und das tust, dann oute ich dich.
Oder dass man homosexuellen Priestern sagt: Für die und die Stelle oder
Leitungsposition bist du nicht geeignet, weil du schwul und damit
erpressbar bist. Also wenn du Bischof wirst und irgendjemand bekommt mit,
dass du schwul bist, dann geht es nicht mehr. Deswegen ist es sehr zu
empfehlen, wenn man Karriere machen will, auf keinen Fall über die eigene
homosexuelle Orientierung zu sprechen. Woraus ich jetzt nicht schließen
möchte, dass die Mehrheit der Bischöfe schwul ist.
Na, das wäre eine Nachricht.
Jedenfalls: Beim Thema Homosexualität und Klerus stimmt der Satz ganz
besonders, dass die Voraussetzung für die Karriere Anpassung ist.
Angepasste Männer, die in Leitungspositionen kommen, sind dann keine
starken Führungspersönlichkeiten, sondern bloß hart.
Das erleben wir jeden Tag, nicht nur im katholischen Klerus.
Wenn ich mir manche Figur im Vatikan angucke, denke ich mir, das ist
einfach nur steinerne Härte. Mit einer kraftvollen, geerdeten
Leitungspersönlichkeit hat das nichts zu tun.
Woran liegt es, dass die Kirche überhaupt so ein wahnsinniges Problem mit
Sexualität hat? Hängt das an dem historischen Augustinus und seiner
Sündenlehre?
Historische Rückführungen reichen nicht. Augustinus urteilte ähnlich wie
Freud, dass wir bei der Sexualität nicht Herr im eigenen Haus seien. Er
verband das mit dem Gedanken der Strafe für den Ungehorsam des
Menschenpaares im Paradies – eine verhängnisvolle Verknüpfung. Trotzdem
folgt daraus nicht, dass Sexualität einfach nur etwas Tolles ist.
Nicht eine gute Gabe Gottes, wie es dann häufig von Theologen heißt?
Auch eine gute Gabe, ja. Ich finde jedoch, die Alternative zu dem
verquasten Umgang der katholischen Kirche mit Sexualität besteht nicht
darin, dass man alle [3][ethischen Fragestellungen im Kontext von
Sexualität] beiseitewischt und sagt: Hier darf die lustige Willkür
herrschen. Manch ein Täter gerierte sich als Freigeist nach dem Motto:
Solange Einvernehmlichkeit herrscht, ist alles okay. Aber genau das ist
eben falsch, wenn ein Machtgefälle dabei ist.
Der Synodale Weg will ja die Kirche demokratisieren. Haben Sie Hoffnung,
dass das klappt?
Ich fände es einen großen Fortschritt, wenn Gremien und Laien beteiligt
würden an dem Verfahren zu Bischofsernennungen. Warum sollte das nicht
möglich sein?
Die nordischen Bischöfe haben den Synodalen Weg in Deutschland stark
kritisiert. Er wird ja auch außerhalb Deutschlands sehr genau wahrgenommen.
Das ist erfreulich. Es kommt eben etwas auf die Gesamtkirche zu. Es macht
Angst, und Angst macht Debatten. Einige würden gerne in ihren informellen
Zirkeln weiter die Macht unter sich verteilen. Ich glaube, dass die
Kritiker des Synodalen Wegs die Wucht der Missbrauchsthematik, die diesen
Prozess angestoßen hat, nicht begreifen. Er ist universalkirchlich
bedeutsam, und die Kirche wird sich ihm nicht entziehen können.
Auch in Afrika und Lateinamerika?
In Lateinamerika ist das Thema auch schon angekommen. Und auch in Afrika
gibt es Katholiken, die schwul sind und die anfangen zu sprechen. Auch das
Thema Gewalt gegen Frauen kommt dort auf den Tisch, ganz besonders übrigens
bei Nonnen.
Manche reden ja von einer neuen Reformation, in der wir stehen.
Wir befinden uns in der Tat in einer Zeit, die mit der Reformation
vergleichbar ist. Wenn Rom sich in all diesen Sachen nicht bewegt, dann
wird es explodieren.
Wir könnten ein neues Schisma erleben?
Ja, dann sind aber nicht nur die Reformer des Synodalen Wegs dran schuld.
Wäre das denn eigentlich schlimm, wenn die Katholikenheit sich spalten
würde?
Die Einheit der Kirche auch in einer institutionellen Form ist ein hohes
Gut, weil die katholische Kirche nur so eine global wirkende Institution
ist, die wie kaum eine andere wirklich fähig ist, global Themen zu setzen.
Und wir brauchen Institutionen, zivilgesellschaftliche Gruppen und
Religionen, die sich als globale Akteure verstehen. Sonst haben wir am Ende
nur noch Leute wie Mark Zuckerberg und Elon Musk als global agierende,
nichtstaatliche Akteure.
Das kann niemand wollen.
Die Enzyklika Laudato si von Papst Franziskus hat globale Bedeutung. Ein
Text, mit dem sich 1,2 Milliarden Menschen in dieser Welt
auseinandersetzen. Das ist doch eine irre Chance. Die Zersplitterung der
katholischen Kirche wäre kein Gewinn für unsere Welt.
Die Krieg-und-Frieden-Frage ist auch in der katholischen Kirche umstritten.
Sind Sie für Waffenlieferungen an die Ukraine?
Ich bin offen dafür. Es ist katholische Lehre seit eh und je, dass es ein
Recht auf Selbstverteidigung gibt.
Trotzdem bleibt dieser Satz von Jesus: Halte die andere Wange hin.
Ich verstehe diesen Satz als Eskalationsverbot, gerichtet an die
angegriffene Seite: Ich darf den Feind, also den militärischen Gegner,
nicht dehumanisieren, auch dann nicht, wenn er mich dehumanisiert. Es geht
darum, auch bei der Selbstverteidigung Frieden und Versöhnung mit dem
Gegner nicht aus den Augen zu verlieren und die Brücken dazu nicht
definitiv zu zerstören.
Pater Mertes, am Ende unseres Gespräches fragen wir uns: Sind Sie mit
Ihrem Leben zufrieden?
Ja. Ich bin ein Glückskind. Ich bin nämlich in den entscheidenden
Augenblicken meiner großen Lebenskrisen den richtigen Menschen begegnet.
Und die Krisen sind vorbei?
Nein. Sie werden immer wiederkommen, auch neue. Jeden Morgen, wenn ich
aufwache, ist mir ein bisschen bange, wenn ich meine Mailbox aufmache. Was
für eine Hassbotschaft bekomme ich jetzt schon wieder?
Hat sich Ihre Offenheit, Ihr Engagement in puncto sexuellen Missbrauch als
richtig erwiesen?
Früh habe ich mich entschieden zu sagen: Noch anstrengender, als das Thema
anzunehmen, ist es, das Thema loswerden zu wollen. Es ist anstrengend, sich
wieder und wieder damit auseinanderzusetzen. Es ist ein steiniger Weg. Ich
bin aber nicht bitter geworden und dafür bin ich einfach dankbar. Das war
auch immer mein Ziel.
Hätte ja auch anders kommen können. Wann ist Ihnen klargeworden, dass es
keine Garantie auf ein glückliches Leben gibt?
Ein glückliches Leben mit Garantiestempel? Daran habe ich nie geglaubt.
Dazu bin ich zu katholisch aufgezogen worden. Mich hat von Anfang an das
Thema Einsatz des Lebens fasziniert, kurz: das Kreuz. Da sind die Personen
des Widerstandes, also Menschen, die ihr ganzes Leben für eine Sache
einsetzen und riskieren. Es war immer meine Sehnsucht, etwas zu finden,
wofür ich bereit bin, wirklich mein Leben einzusetzen. Und das gibt es.
Jan Feddersen, Jahrgang 1957, taz-Redakteur, und Philipp Gessler, Jahrgang
1967, taz-Autor und Redakteur des Monatsmagazins Zeitzeichen, haben für die
taz in den vergangenen 25 Jahren, oft zusammen, zu und von Kirchentagen
berichtet. Beide veröffentlichten voriges Jahr das Buch „Phrase unser. Die
blutleere Sprache der Kirche“.
25 May 2022
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