| # taz.de -- Kanada-Reise des Papstes: Mehr Worte als Taten | |
| > Bei vielen kanadischen Ureinwohnern macht sich nach der Bußreise von | |
| > Papst Franziskus Erleichterung breit. Aber es gibt auch Ernüchterung. | |
| Bild: Protest in Québec: „Widerruft die Doktrin“ steht auf dem Banner | |
| CALGARY taz | Kurz vor Beginn der Messe haben die zwei indigenen Frauen | |
| allen ihren Mut zusammengenommen. Entschlossen schritten Chelsea Brunelle | |
| und Sarain Fox an den katholischen Würdenträgern vorbei nach vorne zum | |
| Altar und entrollten direkt unter den Augen von Papst Franziskus ein | |
| Plakat. „Rescind the doctrine“ stand darauf in roten und schwarzen | |
| Buchstaben: Widerruft die Doktrin. | |
| Gemeint haben die Frauen damit die Doktrin der Entdeckung, eine päpstliche | |
| Glaubenslehre aus dem 15. Jahrhundert, die es den kolonialen Eroberern | |
| seinerzeit erleichterte, das Land der indigenen Bewohner in Nordamerika zu | |
| besetzen und deren Ressourcen zu plündern. „Versöhnung bedeutet konkretes | |
| Handeln“, forderte Brunelle hinterher: „Und davon wollen wir mehr sehen.“ | |
| Diese Botschaft war den Frauen so wichtig, dass sie dafür eigens aus dem | |
| Norden Kanadas in die Basilika Sainte-Anne-de-Beaupré nach Québec gekommen | |
| waren, wo der Papst am vorletzten Tag seiner [1][Bußreise] vor 2.000 | |
| Gläubigen eine Messe zelebrierte. Mit ihrer Aktion wollten sie auch ihre | |
| Tante ehren, die wie so viele indigene Kanadier in einem katholischen | |
| Internat Missbrauch erleben musste. | |
| Die Verfehlungen der katholischen Würdenträger in den sogenannten | |
| [2][Residential Schools], in denen über ein Jahrhundert lang rund 6.000 | |
| indigene Kinder als Folge von Gewalt und Vernachlässigung starben, standen | |
| im Mittelpunkt der päpstlichen Reise. Bei der Messe in dem katholischen | |
| Wallfahrtsort am Sankt-Lorenz-Strom von Québec sprach der Papst von der | |
| „Last des Versagens“ und einem „Skandal des Bösen“. | |
| ## Franziskus sprach von „tief empfundener Trauer“ | |
| Franziskus versprach, dass sich die Kirche mit „tief empfundener Trauer“ | |
| auf den schwierigen und anspruchsvollen Weg der Heilung und Versöhnung | |
| mache. Bei einer Andacht bekräftigte er, dass sich die christliche | |
| Gemeinschaft nie wieder von der Vorstellung anstecken lassen dürfe, dass | |
| eine Kultur einer anderen überlegen sei. Den sexuellen Missbrauch | |
| Minderjähriger verurteilte er scharf. | |
| Zwei Tage zuvor hatte Franziskus [3][in einer historischen Geste in | |
| Maskwacis] die Ureinwohner des Landes erstmals auf kanadischem Boden um | |
| Vergebung gebeten. Später versprach er, die Kirche werde indigene Kulturen | |
| und Sprachen fördern und die UN-Deklaration der Rechte indigener Völker | |
| achten, die ihnen unter anderem Autonomie in spirituellen Fragen zusichert. | |
| Die versöhnenden Worte brachten vor allem älteren Ureinwohnern, die das | |
| Leid in den Schulen erlebt hatten, Erleichterung. Bei der Messe in Québec | |
| hatten viele Tränen in den Augen, hörten mit erstarrtem Blick zu oder | |
| verharrten nach der Kommunion noch minutenlang im stillen Gebet. Und doch | |
| gingen die Worte des Papstes vielen, vor allem jüngeren Ureinwohnern, nicht | |
| weit genug. | |
| Zum Beispiel Brunelle und Fox mit dem Protestplakat. Wie viele sind auch | |
| sie ernüchtert, hatten sie doch [4][auf mehr konkrete Taten gehofft]. Etwa | |
| dass Franziskus die alte Doktrin der Entdeckung außer Kraft setzt. Das ist | |
| aber nicht geschehen. Kanadas Bischöfe wollen nun versuchen, im Vatikan | |
| wenigstens eine Neubewertung der Texte zu erreichen. | |
| ## Entschuldigung wird als unzureichend empfunden | |
| Für viele Kanadier fällt die Bilanz der Papstreise zwiespältig aus. Murray | |
| Sinclair, der indigene Ex-Vorsitzende der kanadischen Wahrheits- und | |
| Versöhnungskommission, sprach zwar von einem wichtigen Signal an die Opfer | |
| der Zwangsinternate. Seine Kommission hatte für den 2015 erschienenen | |
| Abschlussbericht über die Zustände in den Schulen 6.000 Opfer interviewt. | |
| Und doch hält Sinclair die eigentliche Entschuldigung für unzureichend. | |
| Franziskus habe die führende Rolle der Kirche bei der Zwangsassimilierung | |
| nicht anerkannt. Für die Leiden der indigenen Kinder seien nicht nur | |
| Mitarbeiter, sondern die Kirche als Ganzes verantwortlich. Sie sei nicht | |
| nur ein Agent des Staates gewesen, sondern habe die Regierungen vielmehr | |
| gedrängt, die Assimilierung voranzutreiben. | |
| Franziskus hatte in seiner Entschuldigung dagegen nur einzelne | |
| Kirchenvertreter für die Zustände in den Schulen in Haftung genommen, in | |
| denen rund 150.000 indigene Kinder assimiliert werden sollten. Nach einem | |
| Gespräch mit der [5][kanadischen Generalgouverneurin Mary Simon], die | |
| selbst dem Volk der Inuit angehört, sprach er von „lokalen katholischen | |
| Einrichtungen“, die dem Staat assistiert hätten. | |
| Auch die Regierung hatte auf mehr gehofft. [6][Premierminister Justin | |
| Trudeau], der selbst katholisch ist, dankte dem Papst für dessen | |
| Vergebungsbitte und sagte, diese habe eine enorme Wirkung. Doch sei dies | |
| nur ein erster Schritt. Die Kirche trage Mitverantwortung als Institution | |
| und müsse mehr konkretes zur Aussöhnung tun. | |
| ## Kirche hinkt Kanadas Regierung hinterher | |
| Kanadas Regierung hatte sich schon vor über zehn Jahren offiziell für die | |
| Verbrechen der Vergangenheit entschuldigt und Entschädigungen für Opfer | |
| bereitgestellt. Die Kirche hinkt hinterher: Die kanadischen Bischöfe hatten | |
| sich verpflichtet, zur Aufarbeitung der Vergangenheit 30 Millionen Dollar | |
| zu sammeln, bislang sind nur ein Sechstel davon zusammengekommen. | |
| Viele indigene Kanadier fordern zudem, die Archive der ehemaligen Schulen | |
| oder Klöster zu öffnen wie auch die offiziellen Dokumente im Vatikan | |
| zugänglich zu machen, die sich mit den Residential Schools befassen. Auch | |
| fordern sie die Rückholung kultureller Artefakte aus den vatikanischen | |
| Museen. Beides sprach der Papst nicht an. | |
| 29 Jul 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jörg Michel | |
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