# taz.de -- Impfpflicht und Moralphilosophie: Grenzen der Freiheit | |
> Liberale Philosophen lehrten uns, warum eine allgemeine Impfpflicht | |
> moralisch geboten ist. Manche Liberale von heute scheinen das vergessen | |
> zu haben. | |
Bild: Auch gegen die Pockenschutzimpfung sträubten sich manche – anders hier… | |
Im Jahr 1905 führte der US-Bundesstaat Massachusetts eine Pflicht zur | |
Impfung gegen die Pocken ein. Die Krankheit forderte dort zu der Zeit viele | |
Todesopfer. Der aus Schweden stammende Pastor Henning Jacobsen verweigerte | |
die Impfung für sich und seinen Sohn. Ihm wurde eine Geldstrafe auferlegt. | |
[1][Dagegen zog er vor den Supreme Court], wo er argumentierte: „Falls eine | |
Person es als wichtig erachten sollte, dass keine Impfung in ihrem Fall | |
durchzuführen ist, obwohl die Obrigkeit diesbezüglich anderer Meinung ist, | |
liegt es nicht in ihrer Macht, die Person mittels Zwang zu impfen.“ | |
Das Gericht wies die Klage ab: „Die durch die US-Verfassung gewährte | |
Freiheit verleiht dem Einzelnen nicht das absolute Recht, jederzeit und | |
unter allen Umständen frei von Einschränkungen zu sein. Es gibt | |
mannigfaltige Einschränkungen, die jede Person um des Gemeinwohls willen | |
über sich ergehen lassen muss.“ | |
Ein gutes Jahrhundert später soll in Deutschland eine Impfpflicht gegen | |
Sars-CoV-2 eingeführt werden. Von ihren Befürwortern wird sie mit der | |
aktuellen Notlage begründet: „Erste Untersuchungen zeigen, dass vor allem | |
Booster-Impfungen auch gegen diese Mutation [Omikron; Anm. des Verf.] eine | |
gute Wirkung entfalten können. Deshalb ist spätestens jetzt eine allgemeine | |
Impfpflicht unabdingbar“, sagte beispielsweise Niedersachsens | |
Ministerpräsident Stephan Weil (SPD). | |
## Die Frage der moralischen Pflicht | |
Derartige, auf die aktuelle Situation und den medizinischen Nutzen | |
verweisende Begründungen hätten Jacobsen nicht überzeugt, denn er war sich | |
der Notlage durchaus bewusst. Um Jacobsen und seine geistigen Nachfolger | |
umzustimmen, müssen wir grundsätzliche Fragen klären: Gibt es eine | |
moralische Pflicht, sich gegen Corona impfen zu lassen? Wenn dem so ist, | |
darf der Staat diese Pflicht von seinen Bürgern einfordern? | |
Die Moralphilosophen [2][Alberto Giubilini, Thomas Douglas und Julian | |
Savulescu begründeten in einem 2018 veröffentlichten Essay], weshalb es | |
unmoralisch sei, sich nicht gegen gefährliche, ansteckende Krankheiten | |
impfen zu lassen. Die Impfverweigerung sei unmoralisch, weil sie nicht auf | |
einer verallgemeinerbaren Regel basiere (was wäre, wenn jeder so handelte?) | |
und weil sie das Wohlergehen aller Betroffenen nicht maximiere, sondern | |
gefährde. | |
Wenn der Einzelne die moralische Pflicht hat, sich impfen zu lassen, folgt | |
daraus jedoch nicht, dass der Staat dazu verpflichtet sei, eine allgemeine | |
Impfpflicht einzuführen. Ehebruch gilt ebenfalls als moralisch verwerflich | |
und trotzdem sollte der Staat keine Treuepflicht einführen. Vor allem | |
Liberale weisen darauf hin, dass nicht jedes unmoralische Verhalten vom | |
Staat sanktioniert oder verboten werden darf. | |
Warum sollte der Staat nun ausgerechnet beim Impfen dem Einzelnen die | |
Entscheidung nehmen? Vereinfacht gesagt: Weil die Nicht-Impfung nicht nur | |
Einzelnen, sondern der Allgemeinheit schadet. Impfverweigerer gefährden | |
nicht nur sich selbst, sie schaden auch anderen – vor allem jenen, die sich | |
nicht impfen lassen können, sowie bereits Geimpften, die einen | |
Impfdurchbruch mit schwerem Verlauf zu befürchten haben. Ferner belasten | |
sie durch ihre deutlich höhere Hospitalisierungsrate das Gesundheitssystem | |
auf Kosten der Allgemeinheit, von den Folgeschäden ganz zu schweigen. | |
## „Die Schädigung anderer verhüten“ | |
Schaden und Gefahr ziehen in jeder liberalen Ethik die Grenze der | |
individuellen Freiheit. Staaten, andere Institutionen und Personen dürfen | |
dann und nur dann die Freiheit des Einzelnen beschneiden, wenn er oder sie | |
anderen Menschen Schaden zufügt. | |
Dieses Prinzip geht auf den britischen Philosophen John Stuart Mill zurück, | |
der 1859 schrieb: „Dass der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen | |
den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gesellschaft rechtmäßig | |
ausüben darf: die Schädigung anderer zu verhüten.“ | |
In Anbetracht dieser liberalen Grundüberlegung, die einige Liberale und | |
Konservative heutzutage vielleicht vergessen haben, stellt eine Impfpflicht | |
keine „unzulässige Einschränkung der Freiheit“ dar. Wer sich nicht gegen | |
eine tödliche, ansteckende Krankheit mit einem effektiven Impfstoff impfen | |
lässt, schadet ohne triftigen Grund den Menschen in seinem Umfeld. | |
## Prinzip der „sauberen Hände“ | |
Ein Einwand gegen die Anwendung des Schadensprinzips auf das Impfen könnte | |
so lauten: „Von mir geht doch keine direkte Gefahr aus, ich stecke keinen | |
an!“ Tatsächlich ist es so, dass ein Ungeimpfter nicht unbedingt großen | |
Schaden anrichten wird. Er muss weder sich noch andere anstecken. Das | |
Nicht-Impfen ist vielmehr eine kollektive schädliche Handlung. | |
Der libertäre US-Philosoph [3][Jason Brennan argumentierte in einem 2019 | |
erschienenen Aufsatz], dass es unmoralisch sei, sich an solchen kollektiven | |
Aktivitäten zu beteiligen, selbst wenn der Einzelne keinen Schaden | |
anrichtet. Denn dadurch verletze der Einzelne das Prinzip der „sauberen | |
Hände“ (clean hands principle). | |
Angenommen, ein Rechtsradikaler, der sich an einem Anschlag auf ein | |
Asylheim beteiligt, rechtfertige sich: „Ich habe zwar Steine geworfen, aber | |
keiner wurde durch meine Steine verletzt.“ Wäre er moralisch gesehen | |
unschuldig? Nein, denn er begeht Unrecht im Kollektiv. Er macht seine Hände | |
schmutzig. | |
Oder junge Leute, die mit 150 km/h durch die Innenstadt rasen, werden von | |
der Polizei gestoppt und rechtfertigen sich so: „Wir haben doch keinen | |
verletzt, das wollten wir auch gar nicht.“ In diesem Fall gäbe es keine | |
Geschädigten, außerdem hätten sie im Gegensatz zu dem Rechtsradikalen nicht | |
die Intention, andere zu verletzen – sie wollten nur ein bisschen | |
„cruisen“. Warum sollten wir ihre Handlung trotzdem verwerflich finden? | |
Weil sie ein hohes, nicht rechtfertigbares Risiko in Kauf nahmen, dass | |
jemand großen Schaden erleidet. | |
Wenn demzufolge Liberale anerkennen müssen, dass Impfverweigerer anderen | |
schaden, dieser Schaden sehr groß und vermeidbar ist – dann müssen sie | |
Brennans Konklusion teilen: Der Staat ist dazu berechtigt, den | |
Impfverweigerern eine Impfung vorzuschreiben, also eine allgemeine | |
Impfpflicht einzuführen. | |
7 Jan 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Jacobson_v._Massachusetts | |
[2] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6267229/ | |
[3] https://jme.bmj.com/content/44/1/37 | |
## AUTOREN | |
Charles Schildge | |
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