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# taz.de -- Idlib-Offensive in Syrien: Katastrophe mit Ansage
> In Syrien entfaltet sich genau das, wovor seit Jahren gewarnt wird.
> Eigentlich läuft alles nach Plan. Doch der Plan ist ein Desaster.
Bild: Kennen bislang nur Krieg im Leben: Kinder in Idlib auf der Flucht nach No…
Berlin taz | Die Spielregeln sind simpel: Immer wenn eine Explosion zu
hören ist, wenn eine Bombe in der Nachbarschaft einschlägt, muss gelacht
werden. „Da kommt ein Flugzeug“, sagt der Papa, „oder ist es Granatfeuer?…
Das Mädchen horcht: „Wenn es kommt, lass uns lachen“... „es kommt!“ Ei…
krachende Explosion. Mit Schwung wirft das Mädchen den Kopf in den Nacken
und lacht, die ansteckende Lache einer Dreijährigen.
Das [1][Video] aus der syrischen Provinz Idlib geht dieser Tage in sozialen
Netzwerken viral. [2][Abdullah al-Mohammed], der syrische Vater, hat es
selbst aufgenommen. Das Lachspiel habe er sich ausgedacht, um seiner
Tochter die Angst zu nehmen, erklärt er später, als ihn Journalisten in
Idlib aufsuchen – um den Krieg für seine Tochter in ein Spiel zu
verwandeln.
Wäre der Krieg in Syrien tatsächlich ein Spiel, so ginge die Partie jetzt
in ihre letzte Runde. Der Sieger hätte seinen Gegner so weit in die Ecke
gedrängt, dass er jetzt nur noch zuschlagen müsste, die gegnerischen
Spielfiguren vom Brett kicken und seine Überlegenheit genüsslich auskosten
könnte. Doch der Konflikt, der bald in sein zehntes Jahr geht, ist kein
Spiel. Baschar al-Assad ist ein Kriegsherr, der sich noch immer Präsident
nennen darf – 400.000 Toten zum Trotz und ungeachtet der Tatsache, dass
fünf Millionen Menschen ins Ausland fliehen mussten und weitere sechs
Millionen innerhalb Syriens vertrieben wurden.
Seine verbliebenen Gegner hat Assad in die Ecke gedrängt. Über Jahre hat
er, sobald seine Truppen ein von Aufständischen gehaltenes Gebiet
zurückerobert hatten, Kämpfer jeglicher Couleur samt ihren Familien per
Reisebus in den fernen Nordwesten des Landes geschafft. In Idlib hat er sie
zusammengepfercht, sie auf einem Gebiet nur halb so groß wie
Schleswig-Holstein konzentriert. Hatte die Region vor dem Krieg rund
eineinhalb Millionen EinwohnerInnen, lebten zwischenzeitlich rund drei
Millionen allein in den von Rebellen kontrollierten Gegenden Idlibs.
## Erdoğan droht mit neuer Syrien-Offensive
Trotzdem kann der 54-Jährige jetzt nicht einfach abräumen, den Gegner für
geschlagen und den Krieg glaubhaft für beendet erklären. Zwar zweifelt
niemand an seinem immer wieder erklärten Willen, ganz Syrien zurück unter
die Kontrolle von Damaskus zu bringen. Mit den Iranern und vor allem den
Russen, die seit Herbst 2015 mit eigenen Truppen und ihrer schlagkräftigen
Luftwaffe direkt in den Konflikt eingreifen, hat er auch die nötige
Unterstützung.
Aber auf seinem Feldzug in Idlib, der nun letzten Anti-Assad-Hochburg
Syriens, stellt sich ein anderer Player den Regimetruppen immer
entschiedener entgegen: die Türkei, die mit Idlib eine Grenze teilt. Dies
seien „die letzten Tage“ für das syrische Regime, um seine Aggression zu
stoppen, erklärte Recep Tayyip Erdoğan am vergangenen Mittwoch gewohnt
großspurig.
Damit [3][bekräftigte der türkische Präsident ein Ultimatum], das er schon
Anfang Februar ausgesprochen hatte: Sollten sich die syrischen Truppen bis
Monatsende nicht zurückziehen auf die Grenzen vor Beginn des jüngsten
Vormarschs im April 2019, würde er – erneut – mit einer großangelegten
Militäroffensive in Syrien intervenieren. „Die Idlib-Operation ist eine
Frage des Augenblicks“, drohte Erdoğan. Die Türkei werde Idlib nicht der
syrischen Regierung und ihren Unterstützern überlassen.
Tatsächlich hat die türkische Regierung in den letzten Wochen massenweise
Kriegsgerät nach Idlib schaffen lassen. Damit stehen sich die türkische und
syrische Armee nun direkt und schwer bewaffnet gegenüber. Am Donnerstag
erst wurden wieder zwei türkische Soldaten getötet, nachdem die Situation
schon Anfang des Monats eskaliert war. Mit dem jüngsten Vorfall starben
diesen Monat 15 türkische Soldaten im Nachbarland. Ankara reagierte mit
Vergeltungsschlägen. Glaubt man dem Verteidigungsministerium wurden allein
am Donnerstag mehr als 50 syrische Soldaten getötet.
Aber die Türkei hat auch reichlich Verbündete in Idlib. Seit Jahren
arbeitet sie eng mit mehreren teils islamistischen Milizen zusammen, die in
der Region das Sagen haben. Sie tragen Namen wie Ahrar al-Scham, Ansar
al-Tauhid oder Islamische Turkestan-Partei. Den Großteil der Kämpfe gegen
die Assad-Truppen aber führt die Rebellengruppe Hai'at Tahrir al-Scham
(HTS) aus, die weite Teile des Rebellengebiets kontrolliert.
HTS und ihre Verbündeten hatten vor Großoffensive des Regimes fast ganz
Idlib unter ihrer Kontrolle. Eine in den Rebellengebieten installierte
Gegenregierung, die sogenannte „Heilsregierung“, gilt als politischer Arm
von HTS. Sie sorgt für Strom und Wasser und übernimmt zumindest teilweise
grundlegende staatliche Dienstleistungen.
So brutal wie einst der IS in Syrien ist HTS nicht und verfügt auch bei
weitem nicht über die gleiche globale Anziehungskraft. Doch auch HTS hat
ein autoritäres Regime errichtet. In den hochwertigen Propagandavideos der
Miliz werden keine Köpfe auf Zaunpfosten gespießt, stattdessen posieren
bärtige Kämpfer diszipliniert für die Kamera, beten und lesen den Koran,
bevor sie in den Kampf ziehen. Aus ihrer dschihadistischen Gesinnung machen
auch sie keinen Hehl.
## 170.000 Menschen ohne Dach über dem Kopf
Die Zivilbevölkerung in Idlibs Rebellengebiet ist das bevorzugte
Angriffsziel der russischen und syrischen Luftwaffe. Seit Beginn der
Offensive hat das Assad-Regime rund 40 Prozent des ursprünglich von
Aufständischen kontrollierten Gebiets zurückerobert, immer nach demselben
Schema: Luftangriffe zerstören Märkte, Schulen und Krankenhäuser, treiben
die Zivilisten in die Flucht und desorganisieren die Rebellen, dann rücken
Bodentruppen vor.
Auf dem stetig schrumpfenden Gebiet zwischen der geschlossenen Grenze zur
Türkei und den vorrückenden Assad-Truppen sind mehrere Millionen Zivilisten
gefangen. Allein seit Anfang Dezember wurden [4][900.000 Menschen],
darunter mehr als eine halbe Million Kinder, vertrieben – viele nicht zum
ersten Mal; Hunderttausende waren zuvor aus anderen Landesteilen geflüchtet
oder nach Idlib gebracht worden.
Hinzu kommen eisige Temperaturen, teils unter dem Gefriergebiet. In
sozialen Medien machen [5][Bilder von toten Kindern] die Runde, die
offenbar durch Kälte gestorben sind. Auch Mark Lowcock, der
UN-Nothilfekoordinator, bestätigte am Mittwoch: „Ich erhalte täglich
Berichte über Säuglinge und andere kleine Kinder, die in der Kälte
sterben.“ Am Donnerstag teilten die UN mit, dass 170.000 Menschen „unter
freiem Himmel oder in unfertigen Behausungen“ lebten. Aber auch in den
Notlagern sei die Lage katastrophal. Von der „schlimmsten Flüchtlingskrise“
seit Ausbruch des Kriegs 2001 spricht die Welthungerhilfe.
Die UN haben alle beteiligten Länder aufgerufen, die Kämpfe einzustellen,
damit sich die Menschen in Sicherheit bringen können. Auch die EU, die das
Spielfeld seit langem der Türkei und Russland überlassen hat, forderte in
der Nacht auf Freitag einen sofortigen Stopp der Regimeoffensive auf Idlib.
Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron
wollen sich wegen Idlib nun mit Wladimir Putin und Erdoğan treffen.
Macron sagte, in Idlib spiele sich „eines der schlimmsten humanitären
Dramen“ ab. Überraschen dürfte das die Europäer allerdings überhaupt nich…
Seit dem entschiedenen Eingreifen Russlands war abzusehen, dass Assad seine
Ankündigung ganz Syrien zurückzuerobern auch in die Tat umsetzen würde. Und
dass die Türkei die Grenze zum Nachbarland hermetisch abriegelt und kaum
noch jemandem die Flucht gelingt, geschieht in vollstem Einverständnis und
mit großzügigen Geldzahlungen der Europäer.
Mit jedem Reisebus der vergangenen Jahre, der Kämpfer nach Idlib
„evakuierte“, mit jedem oppositionellen Aktivisten und jeder syrischen
Familie, die in Idlib Schutz suchte, drängte sich die immer gleiche Frage
auf: Wie wird dieses Spiel bloß ausgehen?
22 Feb 2020
## LINKS
[1] https://twitter.com/alganmehmett/status/1229150231704543236
[2] https://twitter.com/AboSalwa1987
[3] /Krieg-in-Syrien/!5662065
[4] https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/flash_update_nws_…
[5] /Kaelte-in-Syrien/!5663756
## AUTOREN
Jannis Hagmann
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