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# taz.de -- Hamburger Seenotretter über Solidarität: „Nur Nichtstun ist sch…
> Seenotretter Dariush Beigui wendet sich per Brief an Peter Tschentscher –
> wegen der Situation in Polen und Belarus. Er selbst muss bald vor
> Gericht.
Bild: „Wer nicht aktiv wird, macht sich mit schuldig“, sagt Seenotretter Da…
taz: Herr Beigui, Sie haben einen sehr persönlichen Brief an den Hamburger
Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) gerichtet. Was wollen Sie von ihm?
Dariush Beigui: Wir alle wissen, [1][was gerade an der
belarussisch-europäischen Grenze los ist]. Solidarität heißt, nicht darauf
zu warten, dass jemand kommt und um Hilfe bittet, sondern aktiv Hilfe
anzubieten. Von Peter Tschentscher erwarte ich, dass er aktiv wird, denn
die Menschen dort brauchen jetzt sofort Hilfe.
Was soll er konkret machen?
Es gibt tausend Möglichkeiten, er soll selber überlegen, was er tun könnte.
Das sollten übrigens alle Menschen, aber als Bürgermeister einer der
größten und reichsten Städte Europas hat er weitaus mehr Möglichkeiten. Er
könnte mit einer Delegation dorthin fahren oder eine Videonachricht
schicken, sodass die Menschen sehen, dass sie nicht allein sind. Oder er
schreibt einen offenen Brief an den Bundesinnenminister. Nur Nichtstun ist
schlimm.
Hamburg ist wie viele andere Städte „Sicherer Hafen“ – was müsste damit
einhergehen?
Dahinter steht die Idee, Menschen aufzunehmen, die aus dem Mittelmeer
gerettet werden. Wenn auf europäischer Ebene nicht alle mitmachen, muss man
eben Vorreiter sein. Deutschland hat genug Platz und Geld. Es geht um
Menschenleben, da muss man mal laut sein und etwas fordern: Menschen aktiv
nach Hamburg zu holen.
Sie schreiben an Tschentscher: „Wer in der jetzigen Situation schweigt,
sagt:,Ich will, dass die Leute in den Wäldern vor Polen sich von Blättern
ernähren, bis erst die Kinder in den Armen der Erwachsenen sterben und dann
alle erfrieren.'“ Ist das nicht übertrieben?
So ist die Situation. [2][Es gibt Berichte, die genau das schildern], und
es sind diverse Menschen erfroren in den letzten Tagen. Alle, die nicht
aktiv werden, die nicht täglich ihre Empörung zeigen, machen sich
mitschuldig.
Sie waren nicht an der Grenze?
Nein. Ich war in diesem Jahr zwei Mal mit Seawatch auf dem zentralen
Mittelmeer und bin erst vor drei Wochen wieder gekommen. Außerdem bin ich
verletzt, weil ich bei einem Rettungseinsatz zwischen das Schiff und ein
kleineres Boot geraten bin. Außerdem muss ich zwischendurch auch mal
arbeiten.
Was arbeiten Sie?
Ich bin Binnenschiffer. Mit Tankschiffen fahre ich Diesel zu anderen
Schiffen, hauptsächlich im Hamburger Hafen.
Wie kamen Sie zum Rettungseinsatz auf dem Mittelmeer?
Seit ich denken kann, wurde ich von meinen Schwestern dazu gebracht, ein
linker Aktivist zu sein, ich war schon immer aktiv. Seawatch war in Hamburg
schon präsent, bevor sie bekannt wurden, weil das erste Rettungsschiff hier
umgebaut wurde. Ich bin da bei der Arbeit immer vorbeigefahren und habe mir
gedacht: Schifffahren kann ich ja. Im November 2016 bin ich dann auf meine
erste Mission gefahren.
Wie haben die Einsätze Sie verändert?
Ich bin keine ausgebildete Rettungskraft und man wird da nicht
psychologisch drauf vorbereitet. Das Schlimmste ist: Das Leid dieser
Menschen ist kein Unfall, es ist politisch gewollt. Bei jedem Einzelnen,
dem ich an Bord helfe, denke ich: Eigentlich wollen in Europa alle, dass du
stirbst, oder es ist ihnen zumindest egal. Ich frage mich, was die Menschen
so sehr von uns unterscheiden soll, dass sie kein Leben verdient hätten.
Wie kommen Sie im Alltag mit solchen Gedanken klar?
Ich beschäftige mich mehr mit meiner Verantwortung für die Gründe, aus
denen diese Menschen fliehen. [3][Sie fliehen ja aufgrund unseres
Lebensstils]. Wir holen Rohstoffe aus der Erde, scheißen die Welt mit
Elektromüll zu und machen auf dem Rest der Welt das Leben unmöglich, weil
es uns hier so gut geht. Ich glaube, ich war früher mal besser gelaunt.
Sie klingen nicht wie jemand, der viele Erwartungen in Regierungen und
Parlamente setzt. Warum appellieren Sie dennoch an Peter Tschentscher?
Das stimmt, Politiker*innen haben immer wieder bewiesen, dass da
nichts zu erwarten ist. Zuletzt, als nach dem Brand in Moria ein Großteil
der Parlamentarier*innen dagegen gestimmt hat, die Menschen
aufzunehmen. Das Behindern der Seenotrettung sagt ja auch einiges. Aber ich
will nicht ohnmächtig dasitzen und nichts tun. Wenn ich Tschentscher dazu
bringe, fünf Minuten nachzudenken, habe ich vielleicht schon etwas bewirkt,
und wenn ich ihn nicht erreiche, erreiche ich vielleicht jemand anderen,
der mit seiner Familie diskutiert, Geld spendet oder sich in einer NGO
engagiert.
Sie haben auch eine persönliche Verbindung zur SPD: Ihre Tante war eine
Hamburger SPD-Prominenz, ihr Bild hängt im Rathaus. Wer war sie?
Paula Karpinski, ich nannte sie Tante Paula, obwohl sie die Tante meiner
Mutter war. Sie hat in drei Jahrhunderten gelebt, von 1897 bis 2005. Sie
ist 107 geworden und war immer politisch aktiv, immer in der SPD.
Irgendwann ist sie mal wegen Kriegskrediten ausgetreten, dann aber wieder
eingetreten.Sie war im KZ und hat vorher in der SPD-Zentrale noch schnell
Mitgliederlisten vernichtet, bevor das Büro durch die Gestapo gestürmt
wurde. Damit hat sie wahrscheinlich Menschenleben gerettet.
1946 wurde sie die erste weibliche Senatorin Hamburgs und damit die erste
Frau in einer Landesregierung.
Wenn Tschentscher im Rathaus an ihrem Bild vorbeigeht, soll er darüber
nachdenken, wie unglücklich sie mit der Situation wäre. Ich glaube, jemand,
der Mitgliederlisten verbrennt, um Leute vor dem KZ zu retten und selbst im
KZ war, weiß, wie es ist, in einem Land zu leben, in dem Leute fliehen
müssen. Diese Politik des Wegschauens und Schweigens heutzutage hätte ihr
sicher nicht gefallen. Heute haben wir nicht mehr die Ausrede, die im
Dritten Reich gern benutzt wurde: „Wir wussten ja nichts.“ Alle wissen,was
im zentralen Mittelmeer, in den griechischen Lagern und an der
belarussisch-europäischen Grenze passiert.
Wer sich engagiert, um zu helfen, muss manchmal teuer dafür bezahlen. Sie
warten gerade auf Ihren Prozess in Italien. Was wirft man Ihnen vor?
Ich bin neben vielen anderen [4][wegen Beihilfe zur illegalen Einreise
angeklagt]. Von 2016 bis 2021 wurde gegen uns ermittelt, im März wurde
Anklage erhoben. Wir rechnen damit, dass es Anfang nächsten Jahres losgeht.
Was droht Ihnen?
Ein verdammt langer Prozess, vielleicht fünf Jahre Verhandlungen. Die
Höchststrafe sind 20 Jahre Haft. Plus 11.000 Euro Strafe pro Person, der
man geholfen hat, illegal einzureisen.
Fuck.
Es geht um meine Zeit auf dem Schiff „Iuventa“ bei „Jugend rettet“. Wenn
sie uns in Sippenhaft nehmen und für alle verantwortlich machen, die die
Iuventa gerettet hat, wären das über 14.000 Leute. Aber man weiß nicht, ob
sie das machen, wir haben es mit verrückten Faschisten zu tun. Die
Geldfrage ist allerdings meine geringere Sorge.
Gab es schon vergleichbare Urteile?
Noch nicht gegen Aktivist*innen. Aber es werden ständig Geflohene
verurteilt. Von fast jedem Boot, das gerettet wird, kommen ein oder zwei
Geflohene vor Gericht, weil sie am Motor saßen. Das sind keine Schmuggler,
die saßen da zufällig oder der Schmuggler hat ihnen eine Knarre an den Kopf
gehalten und gesagt „Du fährst jetzt.“ In Italien sind über 1.400 Leute
deswegen im Gefängnis.
Wegen Beihilfe zur illegalen Einreise?
Genau. In Griechenland ist es noch schlimmer, da sind die Haftstrafen
absurd hoch. Vor Kurzem wurde wieder jemand zu 248 Jahren Haft verurteilt,
dazu kommen oft 40.000 bis 80.000 Euro Strafe. Ein solcher Prozess gegen
einen Refugee dauert im Schnitt 28 Minuten.Es geht darum, Migration zu
kriminalisieren.
Haben Sie Angst vor Ihrer Strafe?
Ich bin nicht der Held, der keine Angst vorm Gefängnis hat. Aber bis ein
Urteil rechtskräftig wird, werden vielleicht noch 15 Jahre vergehen, wir
werden ja in Berufung gehen. Das ist zu lange, um mir jetzt Sorgen zu
machen. Wenn ich ins Gefängnis gehe, werde ich viel Solidarität und
Aufmerksamkeit bekommen, ich werde Gehör in der Öffentlichkeit finden.
Viele, die jetzt wegen des gleichen Vorwurfs im Knast sitzen, haben das
nicht.
Was hilft Ihnen, wenn die Angst trotzdem kommt?
Ich habe oft genug mit Menschen gesprochen und Berichte aus lybischen
Lagern gelesen, um zu wissen: Jeder einzelne Mensch, den du vor einem
solchen Lager bewahrst, ist es wert, dafür eine Gerichtsverhandlung zu
riskieren oder ins Gefängnis zu gehen. Ich werde im Knast nicht gefoltert.
Nach einer Haftstrafe kann ich mein Leben weiterleben. Andere werden danach
abgeschoben. Deswegen: Angst? Nein.
21 Nov 2021
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## AUTOREN
Katharina Schipkowski
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