| # taz.de -- Hamburger Filmerbe-Festival „Cinefest“: Dramatische Lebensläufe | |
| > Das „Cinefest“ zeigt Filme von Filmschaffenden, die zwischen 1920 und | |
| > 1970 aus Ost- und Mitteleuropa in die BRD kamen – und dort Karriere | |
| > machten. | |
| Bild: Der letzte Film von Slatan Dudow: „Christine“ (1963) | |
| Russland 1917: Ein Panzerkreuzer ankert vor einer Stadt im Schwarzen Meer. | |
| Es kommt zu einem – erfolgreichen – Aufstand der Matrosen und Soldaten | |
| gegen die Offiziere. Dann wird die Stadt mit Kanonen beschossen. Klingt wie | |
| die Handlung von Sergej Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“ (1925), | |
| allerdings ist der Schauplatz nicht Odessa, sondern Sewastopol. Die | |
| Aufständischen sind auch keine aufrechten Revolutionäre, sondern brutale | |
| Plünderer, die sich nach der Eroberung der Stadt an den dortigen Frauen | |
| vergehen. | |
| „Weiße Sklaven“ hieß dieser deutsche Spielfilm aus dem Jahr 1936, den | |
| Reichspropagandaminister Joseph Goebbels höchstpersönlich bestellte – als | |
| Gegenstück zu Eisensteins erwähntem Klassiker. 1941, nach dem deutschen | |
| Angriff auf die Sowjetunion, kam er noch einmal unter dem Titel „Rote | |
| Bestien“ in die Kinos. Unter seinem Arbeitstitel „Panzerkreuzer Sebastopol�… | |
| findet er sich nun im Programm des Filmfestivals „Cinefest“ in Hamburg: Am | |
| 15. November zeigt ihn das Metropolis-Kino. | |
| Denn inszeniert hat ihn Karl Anton, geboren in Prag, der in den | |
| 1930er-Jahren zuerst nach Paris ging, später nach Berlin. Dort drehte er | |
| Propaganda wie „Ohm Krüger“, aber auch Revuefilme wie „Wir tanzen um die | |
| Welt“ (zu sehen nun am 13. November). Spätestens mit „Panzerkreuzer | |
| Sabastopol“ war Anton dann auch thematisch im Westen angekommen, und so | |
| sind der Regisseur wie auch der Film gute Beispiele für das Thema des | |
| diesjährigen Cinefestes: „Westwärts – Osteuropäische Filmschaffende in | |
| Westeuropa“. | |
| Das inzwischen 18. Internationalen Festival des deutschen Film-Erbes | |
| präsentiert Filme von und mit Filmschaffenden, die zwischen den 1920er- und | |
| 1960er-Jahren aus Ost- und Mitteleuropa nach Deutschland kamen und dort | |
| Karriere machten. Ältester Programmpunkt ist „Am Rüdesheimer Schloss steht | |
| eine Linde“ von 1927. Der Stummfilm war einer der ersten „Rheinfilme“, | |
| gedreht hat ihn der Lette Johannes Guter, die Hauptrolle spielte seine | |
| Lebenspartnerin Marija Leiko. Sie ging nach beider Trennung zurück nach | |
| Lettland und wurde später Opfer des stalinistischen Terrors. Guter blieb in | |
| Deutschland und drehte Nazi-Propagandafilme. | |
| Dramatisch sind die Lebensläufe etlicher Vorgestellter. Der Regisseur | |
| Slatan Dudow zum Beispiel kam in den 1920ern aus Bulgarien nach Berlin und | |
| arbeitete dort mit Bertold Brecht zusammen; dieser schrieb das Drehbuch für | |
| „Kuhle Wampe“, Dudows bekanntesten Film. Nach 1934 zog der Bulgare dann | |
| weiter westwärts: Im Exil zuerst in Frankreich, dann in der Schweiz | |
| überlebte er die Nazizeit und ging zurück nach Deutschland. In der DDR | |
| wurde er durch Filme wie „Unser täglich Brot“ einer der Pioniere der | |
| volkseigenen Filmproduktion Defa. | |
| Neben „Frauenschicksale“ aus dem Jahr 1952 am 17. November zeigt das | |
| Cinefest als Abschlussfilm und „Special Event“ am 21. November eine | |
| restaurierte Fassung seines letzten Films „Christine“ aus dem Jahr 1963. | |
| Den konnte Dudow nicht selbst vollenden: Er verstarb überraschend während | |
| der Dreharbeiten. | |
| In den 1920er- und 1930er-Jahren waren „Russenfilme“ in Deutschland sehr | |
| beliebt: Dafür beschäftigten die Studios gern Talente aus Osteuropa. So | |
| inszenierte der in Polen geborene Martin Berger 1928 „Rasputins | |
| Liebesabenteuer“ (zu sehen am 20. November). Darin verkörperte der Ukrainer | |
| Nikolai Malikoff den charismatischen Scharlatan am Zarenhof. Der Russe | |
| Fedor Ozep wiederum inszenierte in Deutschland die Dostojewski-Adaption | |
| „Der Mörder Dimitri Karamasoff“ mit Fritz Kortner, Fritz Rasp und Bernard | |
| Minetti (19. November). | |
| Neben Regisseuren und Schauspieler*innen gingen auch Filmhandwerker in | |
| den Westen. So fotografierte der slowakische Kameramann Igor Luther 1976 | |
| Volker Schlöndorffs „Der Fangschuss“. Schlöndorff wird bei der Vorstellung | |
| am 20. November selbst von dieser Zusammenarbeit erzählen. | |
| Der Russe Andrej Andrejew wiederum war einer der begabtesten Bühnenbildner | |
| seiner Zeit, ein Ken Adam der 1920er- bis 1940er-Jahre. Im deutsch | |
| besetzten Frankreich stattete er 1943 Henri-Georges Clouzots „Le Corbeau – | |
| Der Rabe“ aus, der als erster französischer Film noir gilt (im Programm nun | |
| am 20. November sowie – als „Cinefest Encore“ – am 24. im Alabama-Kino). | |
| Nach dem Krieg bekam der Kollaborateur keine Aufträge mehr – und so | |
| arbeitete er danach in Deutschland und England. Im [1][Online-Zusatzangebot | |
| des Festivals] wird „Madeleine und der Legionär“ von Wolfgang Staudte mit | |
| Hildegard Knef und Bernhard Wiki gestreamt: Andrejews letzter Film, für den | |
| er 1958 dann auch noch in den Süden ging: nach Afrika. | |
| 11 Nov 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://kinemathek-hamburg.cinemalovers.de/de/home | |
| ## AUTOREN | |
| Wilfried Hippen | |
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