Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Cinefest in Hamburg: Rote Filme sieht man besser
> Das Hamburger Cinefest setzt nicht wie die meisten anderen Festivals auf
> den neuen heißen Scheiß, sondern zeigt ausschließlich historisch
> bedeutende Filme.
Bild: Mit dem Fiat Topolino in der Wandelhalle des Hamburger Hauptbahnhofes gep…
HAMBURG taz | Es gehört fast zur Definition eines Filmfestivals, dass dort
neue Filme, wenn möglich als Erstaufführungen, gezeigt werden. Das
alljährlich im Hamburger Kommunalkino Metropolis veranstaltete Cinefest
bildet da eine Ausnahme. Seine Gründer verstehen es als ein
„Internationales Festival des deutschen Film-Erbes“. Während bei anderen
Festivals Retrospektiven und Werkschauen als Nebenreihen organisiert sind,
werden beim Cinefest nur Filme gezeigt, die eine historische Bedeutung
haben.
Veranstaltet wird das Cinefest vom Hamburgischen Centrum für Filmforschung
Cinegraph und dem Filmarchiv des Bundesarchivs. Seit 2004 gibt es
Themenschwerpunkte. Los ging es mit „Deutsche Filmkomödien vor 1945“,
spätere Titel hießen „Leinen los! Maritimes Kino in Deutschland und Europa�…
oder „Verboten! Filmzensur in Europa“. Dieses Jahr werden erstmals
ausschließlich Dokumentarfilme gezeigt – das Oberthema lautet „Gegen?
Öffentlichkeit!“
Der Untertitel „Neue Wege im Dokumentarischen“ ist eher filmhistorisch
gemeint, denn als neu verstehen die Veranstalter den fundamentalen Wandel,
den der dokumentarische Film in den 60er-Jahren des vergangenen
Jahrhunderts durchlaufen hat. Damals ermöglichten Entwicklungen wie leichte
16mm-Kameras, die in der Hand gehalten werden konnten, und tragbare
Tonbandgeräte den Dokumentarfilmern viel unmittelbarer und beweglicher zu
arbeiten. Zeitgleich gab es weltweit politische Umbrüche wie den
Vietnamkrieg und die Studentenrevolten, die immensen Einfluss auf den
Dokumentarfilm hatten.
Viele Filmemacher sahen den Dokumentarfilm als ihr Mittel zur politischen
Veränderung oder zumindest zur Aufklärung. Dem soll mit dem Titel „Gegen?
Öffentlichkeit!“ Rechnung getragen werden. Frage- und Ausrufungszeichen
seien, so die Veranstalter im Einführungstext ihres Katalogs, „das Ergebnis
eines Diskussionsprozesses“, denn der in den 60er-Jahren allgegenwärtige
Begriff der Gegenöffentlichkeit erweise sich heute als „kommunikativer
Stolperstein“, weil er „völlig unterschiedlich verstanden“ werde.
Das ist auch interessant, weil heute nicht nur die Worte, sondern auch die
Bilder von damals anders verstanden werden. Bei einigen Filmen aus den
späten 60er- und frühen 70er-Jahren machten schon die Titel deutlich, dass
sich die Filmemacher von der Illusion des objektiven Blicks des
Dokumentarfilmers verabschiedet hatten und sie ihre Filme stattdessen als
Teile und Instrumente der in ihnen geschilderten politischen Veränderungen
verstanden. So war „Von der Revolte zur Revolution“ aus dem Jahr 1969 ganz
selbstverständlich eine parteiische Dokumentation über die
Studentenproteste in Hamburg gegen Springer. Gedreht von einem Kollektiv,
wird er heute besonders in Hamburg nicht mehr als agitatorisches Werk,
sondern eher mit nostalgischen Augen gesehen werden. Diese
Bedeutungsverschiebung ist sicher auch ein Thema, das einige der
Filmemacher mit dem Historiker Axel Schildt nach der Vorführung am Sonntag
um 16.45 Uhr diskutieren werden.
Eine ähnliche Wirkung dürfte „Rote Fahnen sieht man besser“ von 1970 heute
haben. Die Dokumentation über die ersten Massenentlassungen in der
Bundesrepublik nach der Schließung eines Krefelder Chemiewerks war damals
politisch so brisant, dass die ARD nur eine veränderte Fassung ausstrahlte.
Am Montag um 19 Uhr wird der Regisseur Rolf Schübel davon erzählen.
Welche Sprengkraft Dokumentationen haben können, kann man exemplarisch an
„Der Kandidat“ von 1980 untersuchen. Das Porträt von Franz Josef Strauß
wurde damals von Volker Schlöndorff, Alexander Kluge, Alexander von
Eschwege und Stefan Aust gedreht, um die Wahl von Strauß zum Bundeskanzler
zu verhindern. Entsprechend wütend waren die Reaktionen. Aus Bayern wurde
durchgesetzt, dass die Bewertungsregeln der Filmbewertungsstelle Wiesbaden
verändert wurden. Dort hatte der Film das Prädikat „besonders wertvoll“
bekommen. Der Filmverlag der Autoren musste einen Prozess gegen die
Bundesanstalt für Filmförderung führen, bei dem herauskam, dass diese
„keine Befugnis zu einer inhaltlichen Prüfung eines zu fördernden Films“
habe.
Im Cinefest-Programm finden sich Klassiker des politisch engagierten
deutschsprachigen Dokumentarfilms wie „Septemberweizen“ von Peter Krieg und
einige europäische Referenzfilme wie der Essayfilm „Sans Soleil“ von Chris
Marker oder „Which side are you on“ von Ken Loach. Die nicht immer
linientreue Dokumentarfilmtradition der DDR wird durch Volker Koepps „Leben
in Wittstock“ und „Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann“ von Helke
Misselwitz über Kohlearbeiter in Ost-Berlin repräsentiert. Mit
„Workingman’s Death“ von Michael Glawogger von 2005 kommt das Programm der
Gegenwart nahe.
Einige schöne Fundstücke wie „Love and Music“ sind zu entdecken. Diese
europäische Variante des Konzertfilms „Woodstock“ wurde 1970 bei einem Open
Air in Rotterdam gedreht, bei dem Santana und Pink Floyd auftraten. „Eiffe
for President. Alle Ampeln auf Gelb“, 1995 von Christian Bau gedreht, ist
für Hamburger Zuschauer eine Art antibürgerlicher Heimatfilm. Der Film ist
eine Spurensuche nach Peter Ernst Eiffe, einem Hamburger Original, der als
der erste Graffitikünstler Deutschlands gilt. Seit Mai 1968 bemalte er die
Stadt mit seinen Sprüchen und war in der linken Szene allgegenwärtig. Als
Höhepunkt seiner alternativen Karriere fuhr er mit seinem Fiat Topolino in
die Wandelhalle des Hauptbahnhofs, den er zur „Freien Republik Eiffe“
erklärte. Danach wurde er in die Psychiatrie eingewiesen, wo er die letzten
15 Jahre seines Lebens verbrachte. Der Film ist nicht nur ein einfühlsames
und oft sehr komisches Porträt eines Außenseiters, er ist auch stilistisch
interessant, weil dokumentarisches Material mit inszenierten Szenen
gemischt wurden. Somit steht er für eine der neuen Entwicklungen im
Dokumentarfilm.
## Cinefest: 15.–23. 11., Metropolis Kino, Kleine Theaterstr. 10, Hamburg
12 Nov 2014
## AUTOREN
Wilfried Hippen
## TAGS
Filmfestival
Hamburg
Filmgeschichte
Filmförderung
Filmfest Bremen
Film
Bundeswehreinsatz
## ARTIKEL ZUM THEMA
Hamburger Filmerbe-Festival „Cinefest“: Dramatische Lebensläufe
Das „Cinefest“ zeigt Filme von Filmschaffenden, die zwischen 1920 und 1970
aus Ost- und Mitteleuropa in die BRD kamen – und dort Karriere machten.
Doku „Untitled“ auf der Berlinale: Unruhig ohne Ende
Ohne festes Ziel sollte es um die Welt gehen. Doch bevor sein
Dokumentarfilm „Untitled“ fertig war, starb Michael Glawogger in Liberia.
Filmförderin Eva Hubert über norddeutsche Regisseure und Geld: „Die Kleinen…
Eva Hubert, Chefin der Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein, geht in
Rente. Die taz sprach mit ihr über Namen, Gremien und ihren Abschied.
Vergessene Filme zum Wiedergucken: „Filmgeschichte korrigieren“
Samstag beginnt das Filmfestival „Cinefest“ mit dem Thema „Menschen im
Hotel“. Die Organisatoren haben lange vergessene Filme in den Archiven
ausgegraben
Rare Aufnahmen des Filmarchivs: Geheimsache DDR-Alltag
Das DDR-Filmarchiv drehte Filme über den sozialistischen Alltag. Eine Doku
präsentiert die raren Aufnahmen, die nie öffentlich werden sollten.
Dokumentation über Afghanistan: Krank vom Krieg
Der TV-Film „Ausgedient“ befasst sich mit den psychischen Spätfolgen des
Afghanistan-Einsatzes. Heute hat er im Hamburger Metropolis seine
Kino-Premiere.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.