| # taz.de -- Gut-und-Böse-Erzählungen: Kampf um Worte | |
| > Polarisierung ist Teil totalitärer Systeme und soll Macht sichern. Das | |
| > geschieht insbesondere mit Sprache und der Einteilung in richtig und | |
| > falsch. | |
| Bild: Eine Mutter zeigt ein Foto ihres Sohnes, der bei einem israelischen Lufta… | |
| Sophie von der Tann solle doch den Job wechseln, wenn sie lieber Aktivistin | |
| wäre, schrieb der israelische Botschafter Ron Prosor vor Kurzem auf der | |
| Plattform X – und warf ihr „Anti-Israel“-Aktivismus vor. Von der Tann, mu… | |
| man wissen, ist Korrespondentin der ARD in Israel. Der Grund für Prosors | |
| Kritik: Die Journalistin hatte auf Instagram einen Artikel der New York | |
| Times gepostet, den der Historiker Omer Bartov verfasst hat. Der Titel des | |
| Textes: „Never again. I am a Genocide Scholar. I know it when I see it.“ Es | |
| war wohl dieses eine Wort, das den Botschafter veranlasste, die | |
| Journalistin zu kritisieren: Genocide. | |
| Genozid. Völkermord. Das Aussprechen oder Nichtaussprechen dieses einen | |
| Wortes wird in der deutschen Debatte genutzt, um [1][Menschen in „Seiten“ | |
| aufzuteilen – in „propalästinensisch“ (ergo antiisraelisch) und in | |
| „proisraelisch“ (ergo antipalästinensisch)]. Es gibt in dieser Erzählung | |
| genau zwei Seiten: Gut und Böse. Wer das Wort Genozid benutzt, ist in | |
| dieser Erzählung „gut“ oder „böse“ – je nachdem, wen man fragt. | |
| Polarisierung ist für Krieg und Gewalt essenziell. Kein Krieg ohne | |
| Polarisierung. | |
| In autoritären Staaten oder bei Terrorgruppen ist der behauptete Kampf | |
| gegen „das Böse“ systemimmanent, weil Polarisierung zentraler Teil | |
| autoritärer Systeme ist. Wladimir [2][Putin kämpft gegen „Nazis“ in der | |
| Ukraine (stellvertretend für das ultimative Böse).] Die Hamas kämpft gegen | |
| Israel und Jüdinnen und Juden (stellvertretend für das ultimative Böse). | |
| Polarisierung soll gewaltvolles und grausames Vorgehen rechtfertigen und | |
| eine heldenhafte Erzählung generieren. Es soll vor allem eines: Macht | |
| sichern. | |
| Denn wer gegen das Böse kämpft, steht selbst auf der guten, der moralischen | |
| Seite. Jede Opposition, jedes Widerwort ist damit von vornherein | |
| delegitimiert – es wird automatisch zu einem Teil des „Bösen“ erklärt. … | |
| wiederum rechtfertigt eine uneingeschränkte Machtansammlung und -ausübung. | |
| Teile und herrsche: Ein seit Jahrhunderten bewährtes Herrschaftsinstrument. | |
| Nicht nur in autoritären Systemen. Der US-amerikanische Präsident George W. | |
| Bush sprach 2002 von der [3][„Achse des Bösen“,] gegen die die USA kämpfen | |
| müssten. In den Kriegen nach den Anschlägen vom 11. September 2001 tötete | |
| die US-Armee mehr als 400.000 Menschen, die nichts mit dem „Bösen“, mit | |
| Terror oder Krieg zu tun hatten. | |
| Im Kampf gegen „das Böse“ ist alles erlaubt, auch das Töten von | |
| Unbeteiligten. Von Jugendlichen, Kindern, Babys, Familien, Frauen, Männern. | |
| Es geschieht schließlich im Namen des „Guten“. Wenn hier vom „Bösen“ … | |
| Rede ist, dann nicht, um in Abrede zu stellen, dass es Böses gibt. Auf der | |
| ganzen Welt geschehen gewaltvolle, böse Taten. In der | |
| Gut-gegen-Böse-Erzählung steht das „Böse“ aber nicht für konkrete | |
| Gewalttaten. Das „Böse“ fungiert als Archetyp und nimmt eine fast | |
| transzendentale Stellung ein. Es erfüllt eine Funktion. | |
| Während die israelische Armee Menschen tötet und aushungert, während die | |
| Hamas immer noch Menschen in Geiselhaft hält und unzählige getötet hat, | |
| streiten sich global Menschen darüber, wer auf der „richtigen“ und wer auf | |
| der „falschen“ „Seite“ steht. Wer Genozid sagt und wer nicht. Wer moral… | |
| ist und wer nicht. In den USA bezeichnet die Trump-Administration im Sinne | |
| der Gut-gegen-Böse-Erzählung inzwischen alle Menschen, die sich für | |
| Palästinenser:innen einsetzen, als Teil des Hamas Support Network | |
| (HNS). So wird jegliche Opposition gebrochen. | |
| Durch die Tech-Plattformen wird die Gut-gegen-Böse-Erzählung milliardenfach | |
| verbreitet. Von Medienschaffenden, Politiker:innen, Aktivist:innen, | |
| Influencer:innen – all jenen, die der [4][Soziologe Steffen Mau] als | |
| „Polarisierungsunternehmer“ bezeichnet. Polarisierung bringt Macht, | |
| politischen Einfluss, Aufmerksamkeit. Es entsteht der Eindruck, als stünden | |
| alle Menschen auf einer der beiden „Seiten“. Das ist eine Lüge. Es gibt | |
| keine Seiten. Die Seiten sind von Machtstrukturen konstruiert. | |
| Die Mehrheit der Menschen verabscheut Gewalt, egal gegen wen. Diese | |
| Mehrheit ist aber nur selten sicht- und hörbar. Stattdessen scheint das | |
| Licht der Öffentlichkeit (und der Algorithmen) auf Menschen, die | |
| polarisieren, die von Seiten reden, die Menschen einteilen nach gut und | |
| böse. Antisemiten, Rassisten, Faschisten, Rechtextremisten, Terroristen – | |
| auf die allerwenigsten Menschen treffen diese Begriffe zu. Aber sie | |
| bestimmen den Diskurs. Und das hat System. | |
| ## Empathie für die eigene Seite | |
| Polarisierung zerstört Empathie. Wer sich auf der moralisch „richtigen“ | |
| Seite sieht, hat viel Empathie für die eigene „Seite“ – aber keine für … | |
| andere. Man hält Gewalt sogar dann für gerechtfertigt, wenn sie sich gegen | |
| Kinder richtet. Denn Polarisierung im Krieg soll die „urmenschliche | |
| Abneigung“ gegen Gewalt, wie der Historiker Rutger Bregman es beschreibt, | |
| ausschalten. Es funktioniert. Diese emotionale Radikalisierung führt dazu, | |
| dass manche Menschen Bilder von ausgehungerten Babys in Gaza sehen können | |
| und kein Mitgefühl haben. | |
| Diese emotionale Radikalisierung führt dazu, dass manche Menschen Bilder | |
| von getöteten Kleinkindern in Israel sehen können und kein Mitgefühl haben. | |
| Bei kleinen Kindern ist diese emotionale Radikalisierung besonders spürbar. | |
| Sie tragen für nichts Schlechtes auf dieser Welt Verantwortung. Wer an | |
| Seiten glaubt, wer an die [5][Gut-gegen-Böse-Erzählung] glaubt, wird | |
| Mitgefühl verlieren. Und Mächtige haben es leicht, Gewalt und Krieg | |
| fortzuführen. | |
| Wenn Menschen angegriffen werden, weil sie vom Genozid sprechen (oder | |
| nicht), geht es nicht um die Menschen, die unter Krieg und Gewalt leiden. | |
| Ginge es um die von Gewalt betroffenen Menschen, dann würden alle darauf | |
| verzichten, recht haben und auf der „guten“ Seite stehen zu wollen. Dann | |
| würde nicht darüber gestritten, wer „böse“ ist und wer „gut“. Dann w… | |
| gemeinsam demonstriert. Gegen Mächtige, die Menschen töten und töten | |
| lassen. Denn die meisten Menschen wollen nur eines: dass Menschen aufhören, | |
| andere Menschen umzubringen. | |
| 30 Jul 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Gilda Sahebi | |
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