# taz.de -- Utopie eines Israel-Palästina: Eine Vision in dunkler Zeit | |
> Der Kulturzionist Martin Buber wird neu gelesen. Seine Utopie eines | |
> binationalen Israel-Palästina eröffnet Perspektiven, die es dringend | |
> braucht. | |
Bild: Zwei-Staaten-Lösung: Rund 15.000 Israelis demonstrieren für eine friedl… | |
Vor Kurzem erschien in den USA eine englischsprachige Neuausgabe der | |
Schriften des [1][Philosophen Martin Buber] „Ein Land und zwei Völker“. Ist | |
die Vorstellung eines binationalen Staats in Palästina, die der | |
galizisch-österreichische Kulturzionist vertrat, heute auf neue Weise | |
relevant? Der palästinensische Philosoph Raef Zreik hat dem Band ein | |
nachdenkliches Vorwort gestiftet – das ist bereits ein Teil der Antwort. | |
Und Jewish Currents, das älteste linksjüdische Periodikum in den Staaten, | |
druckte Zreiks Text nach, womit ein kleiner Diskurs von jener Art | |
entstanden ist, die in Deutschland weitgehend fehlt. | |
Bei aller Kritik an Bubers eurozentrischem Dünkel findet Raef Zreik bei dem | |
jüdischen Humanisten einen entscheidenden Gedanken: dass nämlich | |
Ungerechtigkeit, wenn sie nicht zu verhindern ist, auf das absolut | |
Notwendige zu beschränken sei. Dies, folgert Zreik, schaffe den Raum, sich | |
eine andere Realität in Israel-Palästina vorstellen zu können, zumal heute | |
– anders als zu Bubers Zeit – zwischen Mittelmeer und Jordan eine faktische | |
Binationalität existiert, unter Israels Herrschaft. | |
Wie in seinen anderen Texten wirbt Raef Zreik dafür, die nationale | |
Selbstbestimmung von Juden und Jüdinnen in Palästina anzuerkennen („Sie | |
bilden heute die dritte oder vierte Generation in diesem Land und kennen | |
keine andere Heimat“), doch unter dem Vorzeichen eines Abschieds von | |
siedlerkolonialen Bestrebungen. | |
Binationalismus – so lautet also sein Update von Martin Buber – kann heute | |
nur als Projekt von Dekolonisierung gedacht werden. Für Details dazu ist | |
hier nicht der Platz, doch scheint mir Zreiks Quintessenz wichtig: Jüdische | |
Selbstbestimmung anzuerkennen sei nicht das Gleiche wie die Akzeptanz von | |
Zionismus. „Wir sollten fähig sein, uns einen jüdischen Nationalismus in | |
Palästina vorstellen zu können, der nicht kolonial ist.“ | |
## Es braucht die konstruktive Fantasie | |
Das ist natürlich verwegen utopisch. Doch sind gerade in dystopischer | |
Dunkelheit Visionen nötig. Während der Protest gegen den Genozid in Gaza | |
und die deutsche Mittäterschaft ethisch absolut geboten ist, muss zugleich | |
der Slogan vom freien Palästina „from the river to the sea“ demokratisch | |
und human gefüllt werden. Und das ist in einem Moment, da finale ethnische | |
Säuberungen drohen, keineswegs politisches Topflappenhäkeln. Ohne | |
konstruktive Fantasie droht die Gaza-Solidaritätsbewegung in ihrem Schmerz, | |
ihrer Verzweiflung und Machtlosigkeit in einen Nihilismus auf der Stufe von | |
„Death to the IDF“ abzugleiten. | |
Im Trommelfeuer heutiger Kriegsgewalt erinnert die Lektüre von Buber an | |
eine verschollen scheinende Sensibilität. Das Vertreibungsmassaker von 1948 | |
in Deir Yassin war für ihn nicht allein ein Verbrechen an den arabischen | |
Opfern, sondern auch am jüdischen Geist. Ich halte hier kein Plädoyer für | |
einen besseren Zionismus. Aber die Geschichte seiner binational denkenden | |
Minderheiten zu kennen, ist hilfreich – gerade in der Opposition zu einer | |
Staatsraison, die uns die Verpflichtung auf einen genozidal agierenden | |
Turbozionismus als Lehre aus dem Holocaust verkaufen will. | |
Der israelische Historiker Shlomo Sand, erklärtermaßen ein Postzionist, | |
lässt in „Ein Staat für zwei Völker?“, das gerade auf Deutsch erschienen | |
ist, alle historischen Protagonisten Revue passieren, die keine jüdische | |
staatliche Souveränität anstrebten oder zumindest keine jüdische Hegemonie. | |
Die wenigsten waren so konsequent wie Bubers Gefährte Hans Kohn, der mit | |
den Worten „Zionismus ist nicht Judaismus“ seine leitende Stellung bei der | |
Jewish Agency in Jerusalem hinwarf und in die USA emigrierte. Auch noch | |
nach dem Holocaust forderten Weitsichtige wie Hannah Arendt einen föderalen | |
Rahmen des Zusammenlebens – andernfalls drohe, so Arendt, „die | |
Versteinerung“ des Konflikts. | |
## Schnee von gestern oder Zukunftsmusik? | |
Der jüdische Staat, wie ihn der UN-Teilungsplan von 1947 vorsah, war | |
übrigens mit einer arabischen 45-Prozent-Minderheit in demografischer | |
Hinsicht faktisch binational. Erst [2][die Vertreibungen durch Nakba und | |
Krieg] brachten Israel jene überwältigende jüdische Mehrheit, welche die | |
zionistische Führung stets im Auge hatte. Zuvor hatte ein Minderheitsvotum | |
bei den UN, vertreten durch Indien, Iran und Jugoslawien, eine | |
jüdisch-palästinensische Föderation gefordert – Schnee von gestern oder | |
Zukunftsmusik? | |
In Deutschland ist das Wissen über Zionismus wie über nichtzionistische | |
Sichtweisen jüdischer Geschichte verblüffend gering. An klugen Büchern | |
mangelt es nicht, doch im politischen Raum ist eine selbstverschuldete | |
Unmündigkeit entstanden, aufgrund derer israelische Regierungspropaganda | |
bei Journalisten und Abgeordneten leichtes Spiel hat. Das war nicht immer | |
so. Aber in den letzten 20 Jahren hat intellektuelle Verflachung – im Takt | |
mit der Rechtsdrift in Israel – einen autoritären deutschen | |
Dünnbrett-Zionismus entstehen lassen: Demnach ist nur ein einziges | |
Verständnis von jüdischer Sicherheit erlaubt, nämlich jene ethnoreligiöse | |
Suprematie, die kein Ende der Besatzung erlaubt. | |
Eine Position wie etwa die des US-amerikanischen Journalisten Peter | |
Beinart, der judaistisch-religiös gegen jüdische Vorherrschaft | |
argumentiert, wirkt wie von einem anderen Stern. Der israelisch-deutsche | |
Philosoph Omri Boehm durfte wegen seiner binationalen Überzeugungen [3][die | |
vereinbarte Rede in der Gedenkstätte Buchenwald nicht halten] – niemand aus | |
der deutschen Politik nahm ihn gegen die Diffamierungen der israelischen | |
Botschaft in Schutz. | |
Vor einiger Zeit sagte Boehm, auf die israelischen Streitkräfte wie auf die | |
Hamas gemünzt: „Wir müssen lernen, die aktuellen Verbrechen als Verbrechen | |
zu sehen, die gegen unsere eigenen zukünftigen Bürger gerichtet sind. Eines | |
Tages werden sie so gesehen werden. Es ist die einzige Hoffnung, die wir | |
haben.“ | |
9 Jul 2025 | |
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## AUTOREN | |
Charlotte Wiedemann | |
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