# taz.de -- Griechenlands linker Reeder: Politische Kreuzfahrt mit Wahnsinn | |
> Stefanos Kasselakis hat die einstige Lieblingspartei der europäischen | |
> Linken gekapert. Der Politneuling betet für Syriza sogar in der Kirche. | |
Bild: Strahlemann: Stefanos Kasselakis bei einer Wahlkampfveranstaltung von Syr… | |
ATHEN taz | Für Stefanos Kasselakis, 36, seit September vorigen Jahres | |
neuer Chef des Bündnisses der radikalen Linken (Syriza) in Griechenland, | |
bot der Monat April jede Menge Abwechslung: Zuerst empfing er einen | |
Fernsehmoderator in seiner frisch erworbenen Wohnung im Athener | |
Nobelviertel Kolonaki – selbstredend vor laufender Kamera. Sein neues | |
Luxusapartment erstreckt sich auf zwei Etagen, hat 246 Quadratmeter | |
Wohnfläche und ist aufwendig renoviert. Kostenpunkt: schlappe 1,8 Millionen | |
Euro, für Kasselakis offenbar ein Klacks. Breit grinsend stellte er klar: | |
„Ich habe hart in meinem Leben gearbeitet. Meine Einkünfte sind voll in den | |
USA versteuert.“ | |
Hernach begab er sich auf eine mehrtägige Kreuzfahrt in der Ägäis mit der | |
gemieteten Yacht „Par Afron“, steuerte nach und nach mehrere Inseln an, um | |
die ihm fremde Lebenswirklichkeit der Insulaner kennenzulernen. Dies tat er | |
natürlich medienwirksam, mit seinem typischen Colgate-Lächeln. Griechische | |
Medien fanden indes rasch heraus, dass für die besagte Yacht – ohne | |
Spritkosten, Verpflegung und das Salär für die mehrköpfige Crew – 2.400 | |
Euro pro Tag zu berappen sind. Kasselakis war dies schnuppe. Der | |
altgriechische Yachtname, der „vom rechten Verstande abirrend“, sprich: | |
„wahnsinnig“, bedeutet, konnte den reiselustigen Griechen auch nicht | |
abschrecken. | |
Schließlich ging der umtriebige Politneuling, den vor einem Jahr in | |
Griechenland kein Mensch kannte, der in Hellas mittlerweile aber bekannt | |
wie ein bunter Hund ist, in der orthodoxen Osterwoche in die Kirche, | |
zündete brav Kerzen an, küsste kirchlichen Würdenträgern die Hände und | |
bekreuzigte sich vor den Ikonen in einer derart frommen Haltung, dass es | |
hartgesottenen Altlinken schlicht die Sprache verschlug. | |
Unverblümt erklärte Kasselakis nach artig vollbrachtem Gottesdienst: „Die | |
Vereinnahmung von Patriotismus, Glaube und Familie durch die Rechte ist | |
hiermit vorbei. Fortschritt bedeutet, dass man tief in seinem Herzen an | |
Gott glauben kann, aber auch an die Trennung von Kirche und Staat glaubt.“ | |
## „Feindliche Übernahme“ | |
Stefanos Kasselakis ist ein politischer Senkrechtstarter. Eine klare | |
Mehrheit der Syriza-Mitglieder erkor Kasselakis, einen Social-Media-Junkie, | |
zum neuen Parteichef. Kritiker monieren, er habe die Partei regelrecht | |
gekapert. [1][Der innerparteiliche Kasselakis-Triumph] sei nichts anderes | |
als eine „feindliche Übernahme“. Andere ahnen allmählich, was sie sich | |
durch dessen Wahl eingebrockt haben. | |
Wieder andere haben keine Lust, die Suppe auszulöffeln, die sich die Partei | |
da eingebrockt hatte. Schon wenige Wochen nach Kasselakis’ Wahl kehrten | |
gleich elf Parlamentsabgeordnete Syriza den Rücken und [2][gründeten flugs | |
die „Neue Linke“]. Damit hat Syriza nur noch 36 von insgesamt 300 Sitzen in | |
der ehrwürdigen „Boule der Hellenen“, dem Athener Parlament. Dennoch ist | |
Kasselakis, der sich an die Syriza-Spitze katapultierte, Athener | |
Oppositionsführer. Und dies, obgleich er gar kein Abgeordneter ist. | |
Für Syriza, Europas einstige linke Vorzeigepartei, die in der desaströsen | |
Griechenlandkrise in den zehner Jahren von einer Kleinstpartei zur | |
stärksten politischen Kraft avancierte und von Anfang 2015 bis Juli 2019 in | |
Athen regiert hat, ist es ein tiefer Absturz. Bei den jüngsten | |
Parlamentswahlen im Juni des vorigen Jahres kam sie nur noch auf 17 Prozent | |
der Stimmen – 2015 waren es noch 36 Prozent. | |
## Elitär gegen die Eliten | |
Kasselakis will das wieder schaffen. Unter seiner Ägide bleibt bei Syriza | |
kein Stein mehr auf dem anderen. „Ich möchte gemeinsam mit meinen | |
Mitbürgern Stereotypen überwinden. Ich bin ein volksnaher, | |
basisdemokratischer Linker“, beschreibt er sich. Er sei nicht in die | |
Politik gegangen, um Teil der griechischen Eliten zu werden. „Ehrlich | |
gesagt: Ich kenne die New Yorker Elite, die Athener Elite brauche ich | |
nicht“, sagt er dazu abschätzig. Es ist ein unverhohlener Seitenhieb auf | |
den griechischen Premier Kyriakos Mitsotakis, den Spross einer alten | |
Politdynastie. | |
Dabei ähnelt Kasselakis’ Vita durchaus auch jener von Hellas’ Eliten. | |
Geboren in Athen, erhielt der Sohn eines Unternehmers mit 14 ein | |
Vollstipendium der Phillips Academy High School in Andover (USA), studierte | |
an der Uni Pennsylvania Finanzen und internationale Politik. Mit 21 heuerte | |
er bei Goldman Sachs an, mit 30 war er Reeder. Vor seiner Rückkehr in sein | |
Geburtsland lebte Kasselakis in Miami. | |
Kurz vor seiner Wahl zum Syriza-Chef hob Kasselakis in der taz hervor, dass | |
er „von klein auf mit Tempo und autonom agiere“. „Schon im Alter von 15 | |
Jahren wollte ich wieder nach Griechenland zurückkehren, um meiner Heimat | |
zu dienen“, sagte Kasselakis. „Seine Basis“ sei fortan Griechenland. | |
Das private Glück kommt dazu. Im Sommer wird Kasselakis seinen Partner | |
Tyler McBeth in Hellas heiraten. Das ist nur deshalb möglich, weil | |
Kasselakis’ Syriza – eigentlich in der Frontalopposition gegen die alleine | |
in Athen regierende konservative Nea Dimokratia (ND) – erst kürzlich im | |
Athener Parlament [3][bei der Einführung der Homo-Ehe für sie zum | |
Mehrheitsbeschaffer avancierte], während ein Drittel der ND-Abgeordneten | |
Premier Mitsotakis bei der Abstimmung die Gefolgschaft versagte. | |
Seine oberste Priorität sei, so Kasselakis damals zur taz, „dass | |
Griechenland demokratisch funktioniert. Das ist nicht der Fall. Es muss | |
überall eine große Säuberung von unten nach oben stattfinden. Dafür braucht | |
man einen robusten Magen und muss vielen das Spiel verderben. Ich bin | |
bereit, dies zu tun.“ | |
Die Europawahlen sind für Kasselakis und Co. ein Crashtest. Syriza sei | |
„nahe dran“, wenigstens 20 Prozent der Stimmen zu holen, zeigt sich | |
Kasselakis auf der Schlussgeraden vor dem Urnengang kämpferisch. In seinen | |
Augen wäre dies ein erster Schritt, die derzeit allmächtige Regierung | |
Mitsotakis aus den Angeln zu heben. | |
Für Kasselakis, den Sonnyboy aus den USA, der mit Tumulten auf dem | |
Syriza-Parteitag Ende Februar zu kämpfen hatte, ihn aber ungeschoren | |
überstand, ist eine Machtübernahme in Athen keine Illusion, sondern sein | |
erklärtes Ziel. Er strotzt vor Selbstbewusstsein: „Ich werde nach den | |
nächsten Parlamentswahlen der neue Premierminister mit der absoluten | |
Mehrheit der Mandate sein.“ | |
4 Jun 2024 | |
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## AUTOREN | |
Ferry Batzoglou | |
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