# taz.de -- GastarbeiterInnen in der DDR: Gekommen, um zu bleiben | |
> Von vietnamesischen Vertragsarbeitern zu chilenischen Geflüchteten: | |
> Welche Erfahrungen haben MigrantInnen in der DDR gemacht? Was denken sie | |
> heute? | |
Bild: Vier DDR-GastarbeiterInnen aus Mosambik 1983 im VEB Frottana Großschönau | |
Doan Hoang Mai, 58 Jahre alt, kam 1981 aus Hanoi nach Rostock. Die Mutter | |
einer Tochter arbeitet als Steuerfachangestellte. | |
„Im März 1985, nach einem Praktikum im „Hotel Neptun“, wurde mir eine | |
Stelle als Servicekraft angeboten. Die Hotelleitung wollte mich anstellen, | |
aber das hat die Abteilung für Ausländerbetreuung vom Hafen nicht erlaubt. | |
Die Auswirkungen der Wende habe ich erst gespürt, als mir 1990 gekündigt | |
wurde. Auch einige Deutsche kamen nicht mehr zur Arbeit, sie waren in den | |
Westen gegangen. Im Wohnheim lagen Listen mit Namen der Personen, die nach | |
Vietnam ausgewiesen werden sollten. Ich war schwanger und wollte später | |
zurückfliegen, doch dann erhielt ich eine Aufenthaltserlaubnis. | |
Ich bin mit meinem Mann und meinem Kind in eine eigene Wohnung gezogen und | |
habe 2001 eine Ausbildung zur Steuerfachangestellten erfolgreich | |
abgeschlossen. | |
## Leben wir in Freiheit? | |
Doch dann kamen 1992 die Ausschreitungen in Lichtenhagen. Ich habe bis 1990 | |
selbst im Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen gelebt. Von den | |
rassistischen Ausschreitungen 1992 haben mir Freunde erzählt. Wir konnten | |
nicht mehr sorglos aus dem Haus gehen und gewöhnten uns an, öffentliche | |
Plätze und Menschenmengen zu meiden. | |
Dieses Ereignis hat mich nachhaltig beeindruckt. Bis heute fahre ich abends | |
nicht mit der S-Bahn, der Straßenbahn oder mit dem Bus, weil ich mich nach | |
den Ausschreitungen nicht mehr sicher gefühlt habe. Wir haben uns damals | |
häufig abends mit dem Auto abgeholt oder sind zu Hause geblieben. | |
Wieder hatte ich das Gefühl, kein selbstbestimmtes Leben führen zu können, | |
weshalb ich mich oftmals fragen musste: Leben wir nun in Freiheit? Bis | |
heute sage ich zu meiner erwachsenen Tochter, dass sie zwar die deutsche | |
Staatsbürgerschaft besitzt, jedoch wegen ihres asiatischen Aussehens | |
aufpassen soll. | |
Dennoch, Deutschland hat sich seit der Wende sehr verändert. Überall in den | |
Medien sehe ich viele Menschen mit unterschiedlichster Herkunft, und auch | |
in den öffentlichen Stellen werden Vielfalt und Toleranz gefördert. | |
Hier in Rostock gehen die Leute heute anders mit Ausländern um, sie sind | |
freundlicher, offener und hilfsbereiter. Ich bin mir zu hundert Prozent | |
sicher, dass die Rostocker so etwas wie in Lichtenhagen nicht mehr | |
mitmachen würden. | |
Obwohl wir uns über das Mauerfalljubiläum freuen und die vielen positiven | |
Veränderungen miterleben durften, sehen wir auch die zahlreichen Probleme | |
und Schwierigkeiten, die viele Ausländer bis heute haben. | |
Wir fühlen uns noch immer nicht ganz anerkannt. In Vietnam gelten wir als | |
„Auslandsvietnamesen“, weil wir ausgewandert sind. In Deutschland werden | |
wir gesellschaftlich und politisch bis heute als Ausländer behandelt. | |
Obwohl wir seit über dreißig Jahren hier leben, dürfen wir nicht wählen, | |
weshalb wir uns häufig fragen, ob wir überhaupt vollwertige Bürger sind.“ | |
*** | |
Paulino Miguel, 48 Jahre alt, kam aus Mosambik nach Staßfurt, | |
Sachsen-Anhalt. Heute lebt er mit seiner Familie in Heidelberg und arbeitet | |
als Empowerment-Trainer und Kulturmanager. | |
„Ich bin 1982 mit zwölf Jahren nach Staßfurt gekommen. Das war ein | |
einmaliges Projekt für Schülerinnen und Schüler aus Mosambik. In Mosambik | |
fehlten damals Fachkräfte, darum sollten wir in der DDR ausgebildet werden. | |
Ich lernte Reparaturschlosser im Kali- und Steinsalzbetrieb Saale. Später | |
wurde ich Vertragsarbeiter im Metallgusswerk Wernigerode. | |
Von der DDR war es nicht gewollt, dass sich die Vertragsarbeiter und die | |
Bürger begegnen. Wir lebten abgeschottet und sollten im Alltag der DDR | |
nicht vorkommen. Die Erzieher und Lehrmeister haben uns immer als | |
geschlossene Gruppe in die Schule geführt, damit wir keinen Kontakt zu | |
Deutschen haben. Im Werk hatten Deutsche und Vertragsarbeiter getrennt | |
voneinander Unterricht, auch beim Mittagessen sollten wir uns nicht | |
treffen. | |
Liebesbeziehungen zwischen uns und den Frauen aus der DDR waren nicht | |
erwünscht und hätten Folgen wie Gefängnis oder Abschiebung haben können. | |
Unser Wohnheim am Rande der Stadt durften wir jeden Tag für nur zwei | |
Stunden verlassen. Wer die Regeln nicht befolgte, dem drohten Strafen bis | |
zur Abschiebung. Bei diesen Kontrollen hattest du keine Chance, den | |
Menschen zu erklären, wer du bist und was du machst. So entstehen | |
Vorurteile. | |
Wir sind abends manchmal über den Zaun des Heims geklettert und haben die | |
DDR auf eigene Faust kennengelernt. Oft wird den Bürgern der DDR | |
unterstellt, sie seien alle Rassisten. Dann sage ich: Nein! Ich wäre sonst | |
nicht geblieben. | |
Es gab sehr viele gute Menschen in der DDR, die wirklich Interesse an uns | |
hatten, uns heimlich besucht und mit Essen beschenkt haben. Mit einer | |
Familie bin ich noch heute befreundet. | |
Wenn es damals Schlägereien gab, kam der Polizeimeister. Der Deutsche kam | |
dann ins Gefängnis, und der Vertragsarbeiter wurde abgeschoben. So hat man | |
in der DDR Probleme gelöst. Wir kannten keine Justiz, erst nach der | |
Wiedervereinigung habe ich gehört, dass man sich einen Anwalt nehmen kann. | |
## Zeit der Ungewissheit | |
Die Zeit nach der Wiedervereinigung war eine Zeit der Ungewissheit. Wir | |
Vertragsarbeiter waren Freiwild. | |
Nach wie vor wird nicht gesehen, welchen Beitrag die DDR-Vertragsarbeiter | |
für Deutschland und für die Wende geleistet haben. Die Leute haben in das | |
Rentensystem eingezahlt, sie haben Häuser gebaut, an friedlichen | |
Demonstrationen teilgenommen, für besseren Lohn gestreikt und sind nach | |
Fluchtversuchen im Gefängnis gelandet. | |
Wir haben die DDR gemeinsam mit den Deutschen zu Grabe getragen. Wir sind | |
hiergeblieben und haben gesagt: Deutschland hat dazugelernt, Deutsche | |
wollen friedlich leben. Damit tragen wir ehemalige DDR-Vertragsarbeiter zum | |
Zusammenhalt der deutschen Gesellschaft und zur Demokratie bei. | |
Es sind heute nicht 80 Millionen Menschen, die die Weltoffenheit von | |
Deutschland bekämpfen, sondern nur eine kleine Gruppe. Ich sage meinen | |
Kindern, dass sie Deutsche sind und dass sie die Nationalhymne mitsingen | |
sollen, weil sie darauf stolz sein können, was Deutschland erreicht hat. | |
Das aber geht nur, wenn sie sagen: Wir gehören hierher und lassen uns das | |
nicht streitig machen.“ | |
*** | |
Maria Antonia Gonzalez Cabezas, 88 Jahre alt, kam 1974 aus Viña del Mar | |
nach Leutenberg bei Saalfeld. Die Mutter einer Tochter und Großmutter von | |
vier Enkelkindern und zwei Urenkeln ist Rentnerin und lebt in Berlin. | |
Deutschland ist bis heute ein solidarisches Land. Aber die Solidarität der | |
DDR war anders. Die BRD ist ein reiches Land. Die DDR war arm und klein, | |
aber mit einem großen Herzen. Sie hat vielen jungen Chilenen ein Studium | |
ermöglicht und auch mir Arbeit gegeben, als ich in das Land kam. | |
Nachdem der Diktator Augusto Pinochet im Oktober 1973 alle Parteien in | |
Chile verboten hatte, kam ich als Mitglied der kommunistischen Partei | |
Chiles in ein Frauengefängnis in Valparaíso, elf Monate lang. Ich wurde | |
regelmäßig verhört und gefoltert. 1974 wollte mich das Regime aus dem Land | |
verweisen. Also bin ich mit meiner Tochter ins Exil in die DDR gegangen, | |
die sozialistische Regierung unter Erich Honecker hatte uns damals | |
eingeladen. | |
Wir kamen zuerst in das Schloss Friedensburg in Leutenberg bei Saalfeld, | |
einem Kurort. Später sind wir nach Potsdam in eine eigene Wohnung in einen | |
Plattenbau gezogen. Wir Chilenen waren in der DDR voll integriert und haben | |
in dem Plattenbau gemeinsam mit deutschen Familien gelebt. | |
Zusammen mit den deutschen Familien haben wir Geburtstage im Partykeller | |
gefeiert, auch waren wir immer zu den Treffen der Gewerkschaft eingeladen | |
und konnten dort unsere Meinung zu Themen wie unserer Integration kundtun | |
oder dazu, wie politische Immigranten in der DDR ausgebildet werden | |
sollten. | |
## Sicherheit im Westen | |
1986 sind wir nach Berlin gezogen, und ich habe in der Charité als | |
wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Neurophysiologie der | |
Humboldt-Universität gearbeitet. Weil ich passionierte Sängerin und | |
Tänzerin bin, hatte mich die Kulturabteilung der Charité auch eingeladen, | |
für die Patienten auf Konzerten zu singen oder ihnen Conga beizubringen, | |
den kubanischen Tanz. | |
Dass nach der Wende viele Menschen aus der ehemaligen DDR weggegangen sind, | |
hat mich überrascht. Ich denke, sie wollten in den Westen, weil sie dort | |
wohl mehr Sicherheit fanden, nicht ihren Arbeitsplatz zu verlieren und mehr | |
Lohn zu verdienen. | |
Mich hat der Chef des Humboldt-Instituts 1991 mit 60 Jahren in Rente | |
geschickt, so wie es noch in der DDR üblich war, obwohl ich gern noch bis | |
zum 65. Lebensjahr gearbeitet hätte. Als Rentnerin habe ich dann 1993 die | |
deutsche Staatsbürgerschaft erhalten. Wir mussten uns entscheiden, ob wir | |
zurückkehren oder hierbleiben. Ich wollte in Deutschland bleiben, weil ich | |
in Chile wohl keine Arbeit und keine Zukunft gehabt hätte. Deutschland ist | |
längst meine Heimat geworden, aber im Herzen bin ich immer noch Chilenin. | |
Zum 30-jährigen Mauerfalljubiläum möchte ich gern mit allen Bürgern die | |
Wiedervereinigung feiern. Jedoch höre ich immer noch von der Unterscheidung | |
der Gesellschaft in Westdeutschland und Ostdeutschland. Auch Chilenen aus | |
Westdeutschland sagen „Ossis“ zu uns. Dieses Wort sollte in Zukunft nicht | |
mehr gesagt werden, es ist mit so vielen Vorurteilen verbunden. | |
Vor allem die Kinder der ehemaligen Bürger der DDR sind keine „Ossis“, sie | |
sind Kinder des wiedervereinigten Deutschlands. Noch immer bekommen | |
Menschen in Westdeutschland mehr Lohn für ihre Arbeit als Menschen im | |
Osten. Das geht nicht! Man sollte respektieren und anerkennen, was die | |
Bürger im Osten leisten. | |
4 Nov 2019 | |
## AUTOREN | |
Simon Schramm | |
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