# taz.de -- Frankreich vor der Präsidenten-Stichwahl: Pest oder Cholera? | |
> In Mulhouse hat der Linksaußen Mélenchon die erste Runde gewonnen. Jetzt | |
> hadern seine Anhänger*innen: Nicht wählen, Macron oder Le Pen? | |
Bild: Hartes Pflaster und kaum Fans: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron auf… | |
MULHOUSE taz | „Beverly Hills“ wird in Mulhouse das Villenviertel Rebberg | |
mit seinen imposanten Bauten aus dem 19. Jahrhundert genannt, in denen | |
einst die reichen Industriellen wohnten. Der Wohlstand, den die Villen mit | |
ihren parkähnlichen Gärten noch heute verströmen, passt nicht zum Rest der | |
ostfranzösischen Stadt, einer der ärmsten Frankreichs. „Das hier ist nicht | |
Mulhouse“, sagt Jason Fleck, Stadtrat der Linkspartei La France Insoumise | |
(LFI), und zeigt hinter sich. | |
Der 32-Jährige mit den goldenen Piercings im Ohr steht vor einem | |
Reha-Zentrum am Rande des Rebbergs und hat gerade [1][Emmanuel Macron] | |
seine Meinung gesagt. Der Präsident kam vergangene Woche nach Mulhouse, um | |
über die Probleme der Kliniken zu reden. Vor der Stichwahl gegen die | |
Rechtspopulistin Marine Le Pen am kommenden Sonntag setzt er auf soziale | |
Themen, um eine linke Wählerschaft zu überzeugen. | |
Doch in Mulhouse hat der Amtsinhaber keinen leichten Stand. Hier gewann der | |
LFI-Kandidat Jean-Luc Mélenchon die erste Runde am 10. April mit 36 Prozent | |
vor Macron und Le Pen. Auch hinter dem Absperrgitter, das mehrere Dutzend | |
Schaulustige von dem Reha-Zentrum Alister trennt, finden sich nur wenige | |
Fans des Staatschefs. | |
Die meisten sind „Mélenchonist*innen“ wie Fleck. „Die vergangenen fünf | |
Jahre waren eine Katastrophe“, schimpft Sofiane, ein 19-jähriger | |
Management-Student im rosa Rugby-T-Shirt. „Da wollen wir nicht noch mal von | |
vorne anfangen.“ Am Tag der Stichwahl will er zu Hause bleiben. | |
## Keine Empfehlung für Macron | |
„Das ist die Wahl zwischen Pest und Cholera.“ Die 19-jährige Nina, die eine | |
Ausbildung zur Krankenschwester macht, sieht das genauso. Nur die Tatsache, | |
dass Le Pen das Kopftuch auf der Straße verbieten will, gibt ihr zu denken. | |
Schließlich trägt auch sie ein schwarzes Tuch um den Kopf gewickelt. „Aber | |
Le Pen wird sowieso nicht gewinnen“, wiegelt sie ab. | |
Mélenchon, der in der ersten Runde hinter Macron und Le Pen ausgeschieden | |
war, rief seine Anhänger*innen am Wahlabend mehrmals auf, keine Stimme | |
an die Rechtspopulistin gehen zu lassen. Eine Empfehlung für Macron wollte | |
der Drittplatzierte, der stolze 22 Prozent gewann, allerdings nicht | |
aussprechen. | |
Umfragen zufolge könnten rund 30 Prozent seiner Wähler*innen für Le Pen | |
stimmen und weitere 30 Prozent wie Sofiane zu Hause bleiben. Nur 40 Prozent | |
wollen dem Amtsinhaber ihre Stimme geben. „Le Pen ist gefährlich“, schimpft | |
Fleck. Die Kandidatin wolle mit ihren Plänen einer „nationalen Priorität“ | |
die Gesellschaft spalten: Ausländer*innen sollen von der Sozialhilfe | |
ausgeschlossen werden sowie keine Sozialwohnungen bekommen. Der | |
Gleichheitsgrundsatz, der in der Verfassung steht, wäre damit Makulatur. | |
Als „Staatsstreich“ bezeichnet der Verfassungsrechtler Dominique Rousseau | |
ihre Pläne. | |
Dennoch stellen viele Anhänge*innen Mélenchons Le Pen und Macron auf | |
dieselbe Stufe. „Weder Macron noch Le Pen“ lautete der Slogan der | |
Studierenden, die vergangene Woche mehrere Universitäten, darunter die | |
Pariser Sorbonne, besetzten. | |
## Sichtbare Erfolge | |
Sogar Kinder aus Einwandererfamilien wie Sofiane und Nina nehmen es hin, | |
mit ihrer Wahlenthaltung der Rechtspopulistin indirekt an die Macht zu | |
verhelfen. „Ein Teil der französischen Linken kultiviert einen Macron-Hass, | |
der das Maß des Nachvollziehbaren übersteigt“, schreibt der Autor Joseph de | |
Weck in seinem Buch „Emmanuel Macron – der revolutionäre Präsident“. | |
Dabei hat Macron durchaus Erfolge vorzuweisen. Zum Beispiel die Absenkung | |
der Arbeitslosenquote von 9,5 auf 7,4 Prozent. „Das sind doch nur | |
Zeitverträge bei Lieferdiensten wie Domino’s“, kritisiert Fleck. „Er mac… | |
eine Politik für die Reichen.“ | |
Ein Drittel der Bewohner*innen von Mulhouse lebe unterhalb der | |
Armutsgrenze, berichtet der Französisch-Lehrer. Die Arbeitslosigkeit ist | |
hoch in der einstigen Textilstadt mit 110.000 Einwohnerinnen und | |
Einwohnern, die mit Eingewanderten aus mehr als 130 Nationen an die | |
Banlieue rund um Paris erinnert. Auch dort gewann Mélenchon die erste | |
Wahlrunde – sogar noch deutlicher als in Mulhouse. | |
Laut dem Institut für öffentliche Politik profitierten vor allem die | |
Superreichen von Macrons Steuerpolitik, während die Ärmsten verloren. Der | |
Soziologe Jérôme Fourquet machte nach der ersten Wahlrunde eine wachsende | |
Spaltung des Landes in ein „Frankreich von oben“ und ein „Frankreich von | |
unten“ aus. Rentner und Wohlhabende wählten den Präsidenten, sagte Fourquet | |
der Zeitung Figaro. Die anderen entschieden sich für die Kandidaten vom | |
rechten und linken Rand. | |
## Nützliche Idioten | |
Am Sonntag könnten sich die beiden Ränder zusammentun, um Macron als | |
Präsidenten zu verhindern. Le Pen will eine solche „Front“ gegen den | |
44-Jährigen schmieden. Sie soll das Gegenstück zur republikanischen Front | |
sein, die sich seit dem Einzug ihres Vaters, des verurteilten Rassisten und | |
Antisemiten Jean-Marie Le Pen, 2002 in die Stichwahl gegen die extreme | |
Rechte bildete. 2017 gewann Macron so mit 66 zu 34 Prozent gegen Marine Le | |
Pen. Diesmal wird es laut Umfragen deutlich knapper: 55 zu 45 Prozent sagt | |
das Institut Ipsos voraus | |
Gerade die linke Wählerschaft, die vor fünf Jahren noch für Macron stimmte, | |
will den Staudamm gegen die extreme Rechte nicht mehr mitbauen. „Wir haben | |
Angst, [2][die nützlichen Idioten] zu sein“, sagt Samuel Godot, ein blonder | |
19-Jähriger, der eine Vorbereitungsklasse für sein Politikstudium | |
absolviert. | |
Zusammen mit einem Freund steht er vor der Kathedrale von Straßburg, wo | |
Macron nach seinem Auftritt in Mulhouse am Abend eine Wahlkampfkundgebung | |
abhält. Soziale Gerechtigkeit und Ökologie sind Godot wichtig – ebenso wie | |
den vielen anderen Jungwähler*innen, die für Mélenchon gestimmt haben. | |
Bei Macron finden sie davon jedoch viel zu wenig. Dass der Präsident sich | |
auf den letzten Metern des Wahlkampfes sozial gibt und grüne Akzente setzt, | |
überzeugt Leute wie Godot nicht. Auch er will am Sonntag zu Hause bleiben. | |
Aber ganz sicher ist er sich da noch nicht. „Vielleicht wähle ich doch | |
Macron.“ | |
20 Apr 2022 | |
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## AUTOREN | |
Christine Longin | |
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