# taz.de -- Flüchtlinge im Kongo: Energiekekse am Kivu-See | |
> Wenn die UN-Helfer nach Minova kommen, stoßen sie auf ausgehungerte | |
> Überlebende von Massakern aus Kongos neuestem Krieg. Ortstermin in einem | |
> Vertriebenenlager. | |
Bild: Ruhe nach der Flucht: Beatrice Malenda in Minova. | |
MINOVA taz | Beatrice Malenda lässt ihr Bündel fallen und sinkt erschöpft | |
ins Gras. Nothelfer eilen ihr entgegen, reißen Packungen mit Energiekeksen | |
auf und drücken sie der Frau in die Hand. | |
Vorsichtig beißt sie in den Keks, der sofort zerkrümelt. Zaghaft fängt sie | |
an zu kauen. Nach ein paar Bissen löst sich der abgekämpfte | |
Gesichtsausdruck: „Ich hatte solchen Hunger“, seufzt sie und beäugt | |
neugierig den Keks in ihrer Hand, der, so erklären die Helfer des | |
UN-Welternährungsprogramms (WFP), in ihrem Magen wie ein Schwamm aufgehen | |
und ein Sättigungsgefühl erzeugen soll: knapp 1.000 Kalorien, Vitamine, | |
Mineralien und Eiweiß. | |
Beatrice Malenda ist etwa Mitte 40, sie trägt einen bunten Wickelrock, Hemd | |
und ein blaues Kopftuch. Ihre Habseligkeiten schleppte sie in einem Bündel | |
auf dem Rücken, das jetzt neben ihr im Gras liegt, Kochtöpfe, | |
Wasserkanister, Kleidung – hastig zusammengepackt, als Malenda Hals über | |
Kopf die Flucht ergriff. | |
„Ich war drei Tage unterwegs“, berichtet sie. Wie die meisten Vertriebenen | |
in Minova stammt sie aus dem Dorf Ufamando, 70 Kilometer nordwestlich tief | |
in der ostkongolesischen Provinz Nord-Kivu gelegen. Drei Tage ist sie über | |
die Berge hinweg durch den Dschungel geirrt, auf der Flucht vor den | |
Milizen, die ihre Hütten niedergebrannt, ihre Nachbarn massakriert haben. | |
Drei Tage hat sie nichts gegessen, ist nur marschiert. Komplett am Ende | |
ihrer Kräfte ist sie gerade an diesem Morgen in Minova angekommen, eine | |
Kleinstadt am Kivu-See, wo es fließendes Wasser gibt und Fische aus dem See | |
und wo man sich Schutz von Soldaten erhofft. | |
## Zelte aus Bananenblättern | |
In Minova herrscht Gedränge und Verzweiflung. Über 10.000 Vertriebene, so | |
das WFP, muss die Kleinstadt schon jetzt mitversorgen. Und es kommen immer | |
mehr aus den Bergen, in denen gemordet wird. Sie hausen in der örtlichen | |
Schule, haben sich aus Bananenblättern Zelte gebaut, sind in Gastfamilien | |
untergekommen, die selber zu wenig zum Überleben haben. | |
Auf einem Fußballplatz im Schatten von hohen Eukalyptusbäumen stehen Frauen | |
und Männer Schlange: WFP-Mitarbeiter rufen die Namen der Familien auf, die | |
in den vergangenen Tagen neu registriert wurden. Mit einem Fingerabdruck | |
muss das Familienoberhaupt den Erhalt der Erste-Hilfe-Ration quittieren. | |
Ein Kilo Energiekekse verteilt das UN-Programm pro Kopf, um den ersten | |
Hunger zu stillen. Erst in rund einer Woche sollen dann Lastwagen mit | |
richtiger Nahrung eintreffen: Reis, Bohnen, Maismehl. | |
Die Stimmung ist angespannt. Aus Hunger und Erschöpfung drängeln sich viele | |
in den Warteschlangen vor. Es wird geschubst, gestritten, diskutiert. Die | |
WFP-Mitarbeiter rufen durch ein Megaphon zur Ordnung auf. Vergeblich. | |
Plötzlich gerät die Menge in Bewegung. Ein Junge läuft davon, ein paar | |
Packungen Kekse unter dem Arm geklemmt. Männer folgen ihm, holen ihn ein | |
und knüppeln ihn nieder. Er hatte versucht, einer Frau die Rationen zu | |
stehlen. | |
## Alle haben viel durchgemacht | |
Mashimango Meshi versucht, die Menge zu beruhigen. Der Mann mit einem | |
Holzkreuz um den Hals streckt wie ein Prophet die Arme aus. „Ihr werdet | |
alle etwas bekommen, keine Panik bitte!“, ruft er über die Köpfe der | |
Menschen hinweg. Es kehrt wieder Ruhe ein. Meshi hat Autorität. Er ist der | |
Sprecher der Vertriebenen. In seinem Heimatdorf in der Gemeinde Ufamando | |
ist er der Pastor. Der Mann Anfang fünfzig seufzt: „Wir haben alle viel | |
durchgemacht. Die Leute sind verzweifelt.“ | |
In Ufamando, hoch oben in den Bergen gelegen, bekriegen sich seit Oktober | |
2011 vier bewaffnete Gruppen, erklärt Meshi. Knapp hundert Kämpfer der | |
ruandischen Hutu-Miliz FDLR (Demokratische Kräfte zur Befreiung Ruandas) | |
sind dort rund um ein Lager ruandischer Hutu-Flüchtlinge stationiert, um | |
diese zu beschützen. Die Frauen und Kinder der meisten FDLR-Kämpfer leben | |
in diesem Lager. | |
Die kongolesische Miliz „Mayi-Mayi-Kirikichu“, die sich aus der lokalen | |
kongolesischen Ethnie der Tembo rekrutiert, hat sich als | |
Selbstverteidigungsmiliz gegen die FDLR gerüstet, weil die FDLR | |
kongolesische Zivilisten angreift, sobald sie selbst unter Druck gerät. | |
Dazu ziehen rund hundert Kämpfer der Miliz „Nyatura“ („harter Druck“) … | |
kongolesischen Hutu mit Kalaschnikow-Gewehren durch die Dörfer. | |
Sie haben sich mit der FDLR verbündet, damit die Hutu gemeinsam gegen eine | |
vierte Miliz kämpfen, die stärkste der Region: Raia Mutomboki („verärgerte | |
Menschen“). Die zieht derzeit durch immer größere Waldgebiete der | |
Kivu-Provinzen und richtet brutale Massaker vor allem an | |
ruandischsprachigen Bevölkerungsgruppen an. | |
## Sieben Dörfer eingeäschert | |
Auch für Pastor Meshi ist diese Bewegung ein neues Phänomen, erzählt er. | |
„Kurz vor den Wahlen 2011 tauchten in unserer Gegend bewaffnete Männer der | |
Rega-Ethnie auf“, berichtet er. Sie hätten allen Tembo-Männern befohlen, | |
sich mit Macheten zu bewaffnen. „Sie hetzen gegen die Ruander, greifen sie | |
an“, sagt er. Nun würden die Raia Mutomboki mit den Kirikichu gemeinsam | |
gegen die beiden Hutu-Milizen kämpfen. Meshi zählt sieben Dörfer seiner | |
Gemeinde auf, die erst vor ein paar Tagen niedergebrannt wurden. | |
Und was macht Kongos Regierung? Die hat ihre Armee abgezogen, um ganz | |
woanders, an der Grenze zu Ruanda, eine neue Rebellenarmee von | |
Tutsi-Generälen zu bekämpfen, die sogenannte M23. Pastor Meshi schüttelt | |
den Kopf: „Seit die Soldaten aus unserer Gemeinde abgezogen wurden, | |
herrscht dort die totale Anarchie.“ | |
Der Pastor wirkt nervös. Er sucht im Gewühl nach seinen vier Kindern. Als | |
er den jüngsten Sohn, einen mageren Knirps mit zerrissenem T-Shirt und | |
Rotznase, findet, schimpft er laut mit ihm. Er ist überfordert. „Meine Frau | |
hat eine Kugel in den Unterleib getroffen“, berichtet er. Auf dem Rücken | |
habe er sie drei Tage lang durch das Unterholz geschleift, die Kinder im | |
Schlepptau. In der Krankenstation von Minova werde sie nun versorgt. | |
Viermal, erinnert sich der Pastor, seien er und seine Familie in den | |
vergangenen vier Jahren aus Ufamando vertrieben worden. Er habe absolut | |
keine Hoffnung mehr, auch nicht in Kongos Regierung unter Präsident Joseph | |
Kabila. „Kabila hatte uns Frieden im Osten versprochen, doch das Gegenteil | |
ist jetzt eingetreten, die Leute sind verärgert“, schimpft Meshi und | |
verweist auf Kongos Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2011: „Wir sind | |
enttäuscht, weil der Wahlbetrug gezeigt hat, dass sich nichts verändert, | |
auch wenn man es sich wünscht.“ | |
## Von der Hand in den Mund | |
Erneut bricht in der Menschenmenge Tumult aus. Ein weiterer Dieb hat | |
Keksrationen geklaut – und er wird von einem wütenden Mob verfolgt und | |
schließlich eingekreist. Derweil klopft ein Mann Meshi auf die Schulter und | |
erkundigt sich nach der Lage. Es ist Edmond Mundu, Leiter der | |
Zivilgesellschaft in Minova. Er versucht, den Pastor zu beschwichtigen. | |
„Ihr müsst verstehen“, sagt er. „Die Leute in Minova leben selbst nur von | |
der Hand in den Mund und jetzt erhalten nur die Vertriebenen Rationen.“ Die | |
Einwohner von Minova, die die Vertriebenen in ihren Häusern aufnehmen, | |
gingen jetzt leer aus. Gleichzeitig sei alles teurer geworden – Bratöl, | |
Salz, Zucker, Medikamente und Benzin. Der Krieg trifft alle, ob sie fliehen | |
oder nicht. Die Regierungssoldaten in Minova treiben jetzt pro Haushalt | |
einen Dollar in der Woche Sold ein, als Schutzgeld. | |
WFP-Mitarbeiterin Romatoulaye Seck, eine robuste Frau aus dem Senegal, | |
begutachtet sorgfältig die auf der Verpackung aufgelisteten Zutaten der | |
Energiekekse: „Diese Rationen sind extra für unterernährte Menschen | |
hergestellt“, erklärt sie. „Sie werden ausreichen, bis unser | |
Lebensmitteltransport hier ankommt.“ Und dann? Bis der Lastwagen eintrifft, | |
das weiß Seck schon, wird sich die Zahl der Vertriebenen in Minova wieder | |
deutlich erhöht haben. „Wir kommen einfach nicht hinterher.“ | |
6 Jul 2012 | |
## AUTOREN | |
Simone Schlindwein | |
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Kongo | |
Schwerpunkt Kongo-Kriegsverbrecherprozess | |
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