# taz.de -- Flucht in der Ukraine: Alltag eines Krieges | |
> Millionen Ukrainer sind zurzeit auf der Flucht. Journalistin Wiktoria | |
> Powerschuk musste zweimal ihre Heimat im Osten des Landes verlassen. | |
Bild: Slowjansk, im Osten der Ukraine, steht still: Ein Taxifahrer wartet vor e… | |
Der [1][24. Februar 2022] begann für mich als Journalistin, wie für alle | |
Ukrainer*innen, nicht mit einem Kaffee. Stattdessen rief meine Tante an: | |
„Wika, steht auf. Die Russen haben uns angegriffen, Kiew wird bombardiert!“ | |
Der Krieg selbst hatte für mich aber [2][bereits Jahre vorher begonnen]. | |
Genauer gesagt: am 12. April 2014 um 10 Uhr morgens angefangen, ebenfalls | |
mit einem Anruf, diesmal von meiner Mutter: „Ich bin gerade gegenüber vom | |
Gebäude des SBU (ukrainischer Geheimdienst, Anm. d. Red.). Hier laufen | |
Leute in Tarnanzügen herum, ohne Abzeichen. Ich habe gefragt, wer sie | |
seien, und einer sagte: Wir sind gekommen, um euch vom Rechten Sektor | |
(rechtsextreme Organisation, Anm. d. Red.) zu befreien. Ich verstehe gar | |
nichts mehr.“ | |
Damals studierte ich im dritten Jahr an der Akademie für Maschinenbau in | |
der Nachbarstadt [3][Kramatorsk] und fuhr unter der Woche mit dem Bus zu | |
den dortigen Kursen. Ich wollte Softwareentwicklerin werden, war jedoch | |
auch schon in der Mediengruppe der Hochschule aktiv. Ich haderte noch mit | |
meiner Berufswahl. Doch der Krieg räumte alle Zweifel aus. | |
Die damalige Bürgermeisterin von Slowjansk Nelja Schtepa nannte die | |
prorussischen Terroristen „unsere Jungs“ und gab die Stadt faktisch auf. | |
[4][Ein „Volksbürgermeister“ wurde ernannt]. Die Terroristen verhielten | |
sich fast so wie die russischen Truppen jetzt: Angriffe auf Wohnviertel, | |
Plünderungen, Folter und Mord. | |
## „Im Zentrum wird geschossen, was sollen wir tun?“ | |
Die ersten anderthalb Wochen der [5][Besetzung war es in Slowjansk] jedoch | |
relativ ruhig. Überall gab es Kontrollpunkte mit russischen Fahnen und | |
Plakaten über die Gründung der sogenannten Donezker Volksrepublik (DNR). An | |
den Kontrollpunkten standen Leute in grünen Tarnuniformen mit zwielichtigen | |
Gestalten, denen Waffen ausgehändigt wurden. Einige Bewohner ließen sich | |
freudig mit den Kämpfern fotografieren. Auch Abgeordnete arbeiteten mit den | |
Separatisten zusammen, Einheimische halfen mit, das Referendum über die DNR | |
zu organisieren. Ukrainische Flaggen verschwanden von den Straßen. Als das | |
Wappen der Ukraine vom Gebäude des Stadtrates von Slowjansk abgenommen | |
wurde, zog sich in mir alles zusammen. | |
Eine Zeit lang besuchte ich noch Kurse in Kramatorsk, bis zu jenem Tag, als | |
meine Mutter aus Slowjansk anrief: „[6][Im Zentrum wird geschossen], was | |
sollen wir tun?“ Ich hatte nur noch einen Gedanken im Kopf: Ich muss jetzt | |
zu ihr. Ob ich verletzt werden oder von einem Querschläger getroffen würde, | |
war mir egal. Erstmals hatte ich wirklich Angst um das Leben eines | |
geliebten Menschen. Ich nahm also gleich den nächsten Bus nach Slowjansk. | |
Auf den dortigen Straßen wurde es nun immer gefährlicher. Betrunkene | |
Terroristen plünderten und nahmen Leute mit proukrainischen Meinungen fest. | |
Dann kündigte die Ukraine den Beginn einer [7][antiterroristischen | |
Operation (ATO)] an. Viele dachten, dass in ein paar Wochen alles vorbei | |
sein würde. Niemand hatte geahnt, dass uns ein mehr als achtjähriger Krieg | |
bevorstand. | |
Mit der Zeit veränderte die Stadt ihr Aussehen – zu den Kontrollpunkten | |
kamen beschädigte Gebäude hinzu, die Versorgung mit Lebensmitteln kam zum | |
Erliegen, staatliche Einrichtungen, Banken und Geldautomaten funktionierten | |
nicht. Lustige Fotos mit den Besatzern machte niemand mehr, obwohl viele | |
noch glaubten, dass die ukrainische Armee an allem schuld sei und | |
ukrainische Soldaten Wohnviertel beschießen würden. | |
## Schweres Militärgerät lässt die Wände erzittern | |
Während der Besatzung von Slowjansk dachte ich nicht daran, weiter | |
journalistisch zu arbeiten. Am wichtigsten war es, das dritte Studienjahr | |
zu beenden und die Prüfungen zu bestehen. Deshalb zog ich so lange in das | |
Wohnheim der Akademie in Kramatorsk. In die Nachbarstadt Slowjansk zu | |
fahren ging inzwischen nicht mehr. Die Verbindungsstraße war [8][stark | |
umkämpft]. Für die Strecke brauchte man normalerweise nicht mehr als 20 | |
Minuten, jetzt dauerte es zwei Stunden. Zwischen den Prüfungen versuchte | |
ich die Nachrichten zu verfolgen. Als ich eines Tages das Gebäude der | |
Akademie verließ, [9][donnerten drei Kampfjets] über mich hinweg. Ich | |
dachte nur: So etwas habe ich bisher nur im Kino gesehen. | |
Nach meinen Prüfungen konnte ich nicht nach Slowjansk zurückkehren – zu | |
gefährlich, sagten meine Eltern. Doch auch in Kramatorsk wurde es eng: | |
Geldautomaten funktionierten nicht, Banken waren geschlossen. Auch das | |
Stipendium wurde nicht ausgezahlt. Mir ging schnell das Geld aus, | |
schließlich auch die Lebensmittel. Sich Geld zu leihen war auch keine | |
Option, denn niemand wusste, wie es weitergehen würde. Schließlich half | |
ein Freund meiner Mutter aus – er gab mir und meinem Bruder 400 Griwna | |
(umgerechnet ungefähr 13 Euro). | |
Dann rief meine Mutter an: „[10][Heute verlassen wir die Stadt]. Wohin, | |
keine Ahnung. Aber wir werden euch beide irgendwo abholen“, sagte sie. Wir | |
kauften Reis, Haferflocken, Zucker und schwarzen Tee. Und warteten, gefühlt | |
eine Ewigkeit. Dann ein Anruf: „Fahrt nach Swjatogorsk.“ Wir brauchten drei | |
Stunden, ständige Explosionen begleiteten uns. Dort übernachteten meine | |
Familie und ich in der Garage eines Bewohners – für 30 Griwna (umgerechnet | |
ungefähr 1 Euro) pro Person. Schließlich landeten wir in einem Dorf namens | |
Tschurowo. Wir lebten mitten im Wald, auf dem Gelände einer Ferienanlage. | |
Es war kalt und es regnete fast jeden Tag. | |
Eines Nachts kam der Direktor und sagte: „Alle müssen sich im Keller | |
verstecken, fragt nicht, warum.“ Bis vier Uhr morgens saßen wir in diesem | |
Keller. Im Halbschlaf hörte ich das Donnergrollen von schwerem | |
Militärgerät, das die Wände erzittern ließ. Am nächsten Morgen trafen wir | |
eine Entscheidung: Kiew. | |
## Hoffnung nach der Befreihung von Slowjansk | |
In Kiew wurden wir in einem Sanatorium untergebracht. Ich nahm einen Job | |
als Gärtnerin an. Das gefiel mir: frische Luft abseits der Stadt, | |
malerische Natur, ein Minimum an Unterhaltung mit Menschen, deren immer | |
gleiche Fragen ich damals am allerwenigsten hören wollte. Am späten | |
Nachmittag kehrte ich in meine provisorische Unterkunft zurück – müde, aber | |
das lenkte mich ab von der Sorge um meine Heimatstadt und dem endlosen | |
Scrollen durch Nachrichtenseiten. So ging das den ganzen Sommer 2014. Die | |
[11][Befreiung von Slowjansk] am 5. Juli 2014 war für mich eine unerwartet | |
gute Nachricht. Hoffnung keimte auf, dass alle prorussischen Kämpfer aus | |
unserem Land vertrieben werden würden. | |
Als ich im August 2014 nach Slowjansk zurückkehrte, begann ich als | |
Journalistin zu arbeiten. Damals wusste ich nicht, dass die Ereignisse bei | |
uns nur ein Vorspiel dessen waren, was die ganze Ukraine im Jahr 2022 | |
erwartete. Mit der Invasion am 24. Februar hörte für mich die Kategorie | |
Zeit auf zu existieren. Um 6 Uhr morgens, nach dem besagten Anruf meiner | |
Tante, kontaktierte ich meine Kollegen, und wir beschlossen, von zu Hause | |
aus weiterzuarbeiten. | |
Alles verschmolz von nun an zu einem einzigen zähen Tag mit kurzen Schlaf- | |
und Essenspausen. Ich wachte frühmorgens auf und begann sofort, Artikel und | |
Nachrichten zu schreiben. Manchmal verließ ich erst spät nachts den | |
Computer. Ich schlief meist nur vier Stunden, doch auch im Schlaf quälten | |
mich Albträume mit Bildern des Krieges. Nachdem ich morgens die neuesten | |
Meldungen zum Krieg gelesen hatte, konnte ich nichts essen. Allein der | |
Geruch und Anblick machten mich krank. | |
Während ich noch in Slowjansk war, hatte ich daher neben der Arbeit noch | |
zwei weitere Aufgaben: mir einen kühlen Kopf zu bewahren und nicht vor dem | |
Sieg an Erschöpfung zu sterben. | |
## Die zweite Flucht vor der russischen Invasion | |
Immer häufiger gab es nun Luftalarm. Auch die Angst wurde größer. Mit | |
meiner Mutter und einigen Nachbarn richtete ich den Keller her. Wir | |
brachten Wachstücher, Pappen, Matratzen, Kissen, Decken, Wasser, | |
Verbandskästen und Snacks dorthin. | |
Schon als die Explosionen von Weitem zu hören waren, ging ich nicht mehr | |
auf die Straße. 20 Tage verließ ich die Wohnung nicht. Meine Kollegen und | |
ich schrieben ununterbrochen Meldungen und sammelten nützliche | |
Informationen und Kontakte für die Anwohner. In Slowjansk trafen die ersten | |
Evakuierungszüge ein, doch viele wollten nicht einsteigen – hier sei es | |
doch noch sicher, sagten sie. | |
Auch ich selbst wollte nirgendwo hinfahren. Nach mehreren heftigen | |
Explosionen in Kramatorsk und Bombenangriffen auf die Infrastruktur änderte | |
sich das. Den Ausschlag für die Entscheidung, zu gehen, gab letztendlich | |
der Anruf einer entfernten Bekannten um 11 Uhr abends. Meine Mutter hatte | |
den Kontakt zu ihr abgebrochen, da diese Frau sehnsüchtig darauf wartete, | |
dass „die Russen Kramatorsk endgültig befreien“. [12][Wo ich sei und ob ich | |
immer noch als Journalistin arbeiten würde], wollte sie wissen. Innerhalb | |
einer Stunde packte ich meine Koffer. Dann tüftelten wir in der Redaktion | |
einen Evakuierungsplan aus. | |
Tags darauf verließen ich und meine Kollegen mit drei Autos Slowjansk. Nach | |
zwei Tagen erreichten wir nachts die westukrainische Stadt Czernowitz. Mein | |
Körper zitterte von den Strapazen der langen Fahrt und vor Angst. | |
## Pläne für die Zeit „nach dem Sieg“ | |
Am nächsten Morgen raffte ich mich auf, machte mich frisch und schrieb | |
wieder Meldungen und Artikel. Was hätte ich sonst tun sollen? Die Struktur | |
meines Lebens war zum zweiten Mal zusammengebrochen, und ich musste sie | |
erneut aufbauen. | |
Seit ich in Czernowitz eine Wohnung gefunden habe, verläuft mein Leben | |
allmählich wieder in vertrauten Bahnen. In meinen Mittagspausen esse ich in | |
einem Café, am Wochenende mache ich Ausflüge, gehe spazieren oder in die | |
Philharmonie. Ich koche mir etwas Leckeres, zeichne, lese ein Buch oder | |
sehe mir einen Film an. All diese kleinen Dinge bedeuten für mich eine | |
Rückkehr ins Leben. Manchmal habe ich deswegen Schuldgefühle. Doch dann | |
sage ich mir: Warum etwas im Leben aufschieben, wo doch niemand weiß, wie | |
das Morgen aussehen wird? Jetzt ist heute, koste alles aus! | |
Natürlich mache ich Pläne für die Zeit „nach dem Sieg“: in verschiedene | |
Länder reisen, auf Musikfestivals gehen, mir ein Tattoo stechen lassen, | |
meine Freunde sehen, nachts an der Schwarzmeer-Küste sitzen. Aber das alles | |
wird es erst geben, wenn wir gewonnen haben. Bis dahin habe ich mein | |
„Heute“… | |
Aus dem Russischen Barbara Oertel | |
23 May 2022 | |
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