# taz.de -- Flucht aus Gambia: Wenn alle gehen, bleibt die Wut | |
> Aus Gambia wollen viele weg. Ich bin noch hier. Nicht Europa schuldet uns | |
> ein Leben in Würde, sondern mein Land. | |
Bild: In Würde einreisen – das wäre was | |
Als Kind war ich fest davon überzeugt, dass alle erfolgreichen Afrikaner es | |
entweder in Europa oder in Amerika geschafft haben. Vor fast zwei | |
Jahrzehnten, im Jahr 2000, haben zwei meiner Brüder [1][unser Heimatland | |
Gambia] verlassen, um sich auf den „Backway“ zu machen – den Weg durch die | |
Hintertür nach Europa. Damals war der Landweg noch nicht so gefährlich, | |
weil die meisten Migranten nach Marokko gingen, wo durch die Meerenge | |
Europa ganz nah ist. | |
Doch seit dem Sturz Muammar al-Gaddafis im Jahr 2011 ist Libyen ein | |
zerfallener Staat. Afrikanische Migranten benutzen seitdem diese Route und | |
den viel gefährlicheren Weg über das Mittelmeer nach Lampedusa in Italien. | |
Meine beiden Brüder wurden aus Spanien und Italien insgesamt viermal zurück | |
nach Marokko deportiert. | |
Jedes Mal hatten sie geglaubt, es nun endlich geschafft zu haben, und jedes | |
Mal waren sie unendlich frustriert. Der Jüngere, Abdou, entschloss sich | |
nach zwölf Jahren vergeblicher Versuche zurückzukehren. Der andere, Amfaal, | |
reist bis heute zwischen verschiedenen nordafrikanischen Staaten hin und | |
her. | |
In all diesen Jahren ging ich in meinem Dorf noch zur Schule; meine | |
Kindheit war geprägt von dem Unbehagen, meine Brüder nicht um mich zu | |
haben. Noch viel schwieriger fand ich es, nichts von ihnen zu hören, | |
während zugleich täglich neue Nachrichten von gesunkenen Booten und | |
steigenden Zahlen toter Migranten auftauchten, deren Identität nirgendwo | |
dokumentiert ist. Im Jahr 2014 ging mein Vater, der den Lebensunterhalt für | |
unsere Familie bestritt, in Rente. | |
Allen war klar, dass dieser Einschnitt Chaos bedeuten könnte. Wir | |
überlegten, ob noch jemand nach Europa aufbrechen sollte. Auch ich habe | |
unzählige Male daran gedacht zu gehen, aber ich blieb, weil sonst niemand | |
mehr übrig geblieben wäre, um sich um die Eltern zu kümmern. Irgendwann | |
wurde mir klar, dass ich es mit meinen Fähigkeiten und der richtigen | |
Ausbildung auch in Gambia schaffen könnte, für mich und meine Familie zu | |
sorgen. Ich wollte nicht mein Leben riskieren für eine Reise, die im Grunde | |
eine Selbstmordmission ist. | |
## Rückkehrer als Belastung für die Familie | |
Schon bevor irreguläre Migration nach Europa zum Massenphänomen wurde, | |
gingen Gambier fort, aber in viel geringeren Zahlen. Sie verließen ihr | |
Zuhause meist aus politischen Motiven. Viele Jahre litt das Land unter | |
einem Tyrannen, der mit eiserner Faust regierte und die Menschen ins Exil | |
trieb. Die meisten gingen, weil das Leben unerträglich war. Politisch, aber | |
auch, weil für ihre grundlegendsten Bedürfnisse nicht gesorgt wurde. Das | |
ordnete sie automatisch in die Kategorie „Wirtschaftsflüchtlinge“ ein. | |
Inzwischen ist in Gambia seit 18 Monaten eine neue, demokratische Regierung | |
im Amt. | |
Für junge Leute spricht nach wie vor nicht viel dafür zu bleiben, aber auf | |
der anderen Seite gibt es auch nicht mehr so viele Gründe zu gehen. Die | |
neue Regierung hat ein kaputtes System geerbt. Aber es hat inzwischen auch | |
zahlreiche Kommissionen gegeben, die junge Leute eingestellt haben. Und | |
ebenso viele Projekte, die Jobs für die Jugend geschaffen haben; der Bau | |
der Banjul-Barra-Brücke, Straßenbau, Unternehmensgründungen. Ich denke | |
deshalb, dass junge Leute bleiben oder zumindest später wieder heimkehren | |
sollten, denn welchen Sinn hat es sonst, die Regierung zu drängen, das Land | |
zu entwickeln, wenn am Ende doch alle weggehen? | |
Eine typische Eigenschaft afrikanischer Großfamilien besteht darin, dass | |
alles zusammenbricht, wenn der Ernährer stirbt. In unserer Familie gab es | |
nur noch drei männliche Mitglieder, als mein Vater starb: mich, Abideen und | |
unseren ältesten Bruder Abdou, der als Erster den „Backway“ genommen hat. | |
Alle anderen sind weiblich, darunter meine Mutter und auch meine | |
Zwillingsschwester. Als Ältester wäre es eigentlich Abdous Aufgabe gewesen, | |
Verantwortung für die Familie zu tragen. Doch Abideen musste diese Rolle | |
übernehmen. Denn Abdou war, wie die meisten „Backway“-Rückkehrer, | |
orientierungslos und nicht alltagstauglich. | |
Ein Rückkehrer ist fast immer eine Belastung für seine Familie, weil er von | |
vorne anfangen muss. Abdou kam mit nichts zurück. Als die Situation in der | |
Familie immer schwieriger wurde, entschied sich auch Abideen, sein Glück | |
auf dem „Backway“ zu versuchen. Er ging voller Hoffnung und | |
Entschlossenheit. Als er Libyen erreichte, begann er zunächst mit | |
Maurerarbeiten; Steine formen, bauen, anstreichen. Er schickte ab und zu | |
Geld, um die Familie zu unterstützen. Er sagte uns in einer | |
WhatsApp-Sprachnachricht: „Ich arbeite hier, bis ich genug Geld habe für | |
die Überfahrt nach Italien. Niemand muss für mich Geld zusammenkratzen, ich | |
zahle selbst.“ | |
## Wütend auf den „Backway“ | |
So ging es eine ganze Weile weiter bis zu dem schicksalhaften Tag, an dem | |
wir einen Anruf aus Libyen bekamen von einem seiner Kollegen. Er sagte, | |
Abideen sei schwer krank geworden. Als Migrant in einem Land, das nicht | |
sonderlich freundlich zu Fremden ist, bekäme er aber keine medizinische | |
Hilfe. Wenn wir ihn nicht zurückholten, würde er sicher sterben. | |
Es war, als hätte eine Bombe bei uns eingeschlagen! Unsere Familie sah sich | |
mit einer schwierigen Entscheidung konfrontiert. Entweder wir beauftragten | |
jemanden, Abideen zurückzubringen, oder wir würden ihn selbst holen. Nach | |
langen Diskussionen entschieden wir uns für Letzteres: Abdou, der schon | |
viele Jahre in Nordafrika verbracht hatte bei dem vergeblichen Versuch, | |
nach Europa zu gelangen, wurde ausgesucht, ihn zu holen. Doch bevor er | |
überhaupt die Stadt Agadez im Niger erreichte, starb Abideen. Er ist nur 30 | |
Jahre alt geworden, hatte nie heiraten, nie seine Fähigkeiten entfalten | |
können. | |
Normalerweise werden tote Migranten, die in Libyen niemanden haben, einfach | |
wie Tiere entsorgt. Niemanden kümmert es. Doch Abdou setzte sich dafür ein, | |
dass unser Bruder eine anständige Beerdigung bekam. Er entschloss sich | |
allerdings auch, in Libyen zu bleiben und noch einmal zu versuchen, nach | |
Europa zu gelangen. Das war eine schlimme Nachricht für mich. Nachdem ich | |
bereits einen geliebten Bruder verloren hatte, hingen die beiden anderen in | |
Nordafrika in der Luft. Nun musste ich die Verantwortung für die Familie | |
allein schultern. Deswegen bin ich so wütend auf den „Backway“. | |
Ich habe einen Kindheitsfreund, Mafu, mit dem ich lange in einer Mannschaft | |
Fußball gespielt habe. Nachdem er jahrelang erfolglos versuchte, einen Job | |
zu finden, verließ er Gambia eines Tages, ohne mir auch nur ein Wort zu | |
sagen. Es vergingen Monate ohne Nachricht von ihm. Doch plötzlich | |
kontaktierte mich die International Organisation for Migration (IOM), eine | |
UNO-Organisation, die Migranten bei der freiwilligen Rückkehr hilft. Sie | |
sagten mir, Mafu werde in Libyen gerade für die Rückkehr vorbereitet. Er | |
könne sich nur noch an meine Nummer erinnern, sie baten mich, seine Familie | |
zu kontaktieren. | |
In der Nacht konnte ich nicht schlafen, weil ich mir seine Verzweiflung | |
vorstellte und mich fragte, ob er die Rückkehr verkraften würde. Als ich | |
ihn dann sah, war er nur noch ein Schatten seiner selbst: knochig, | |
gebrechlich und ausgezehrt. Ich besuchte ihn gelegentlich und wir redeten | |
darüber, was er durchgemacht hatte. Er erzählte mir, wie libysche Milizen | |
die Migranten ausbeuteten und quälten, wie sie um ihr Leben bangen mussten, | |
wenn sie überhaupt überlebten. | |
## Europa fürchtet sich zu Tode | |
In der Zeit des Sklavenhandels wurden Afrikaner zwangsweise nach Europa und | |
Amerika verschleppt. Jetzt ist es genau das Gegenteil: Afrikaner zwingen | |
sich den Europäern und Amerikanern auf. Und Europa fürchtet sich zu Tode, | |
weil sie noch nie so viele Afrikaner gesehen haben, die entschlossen sind, | |
um jeden Preis Europa zu erreichen. Auch wenn das seltsam klingt: Ich werfe | |
den Europäern nicht vor, dass sie Migranten abschieben. Die europäischen | |
Staaten machen genau das, was den Interessen ihrer Bevölkerung entspricht. | |
Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier [2][sagte während | |
seines Gambiabesuchs] im vergangenen Jahr, dass mindestens 35.000 Gambier | |
in Deutschland leben, ein erheblicher Teil davon illegal. In Spanien und | |
Italien dürfte die Zahl ähnlich hoch sein. Die USA geben ebenfalls an, dass | |
mehrere Tausend Gambier vor der Abschiebung stehen. Dazu muss man wissen, | |
dass Gambia nur zwei Millionen Einwohner hat. Aus meiner Sicht ist es okay, | |
sie zurückzuschicken. Diese Länder haben keine Verantwortung für Gambier, | |
auch nicht für deren Reintegration nach der Abschiebung. Das ist die | |
Aufgabe meiner Regierung! | |
Die Lösung ist im Grunde einfach: Solange wir glauben, dass die | |
Abschiebeländer oder die internationale Gemeinschaft verantwortlich sind | |
für die Reintegration, so lange werden wir auch nicht die Probleme lösen, | |
die zur Migration führen. Unsere Regierung hat es nicht vermocht, ein | |
Umfeld zu schaffen, in dem junge Menschen bleiben wollen. Deswegen gehen | |
sie. Aber als Land sollten wir zumindest bei ihrer Rückkehr dafür sorgen, | |
ihnen endlich das zu geben, was sie dazu gebracht hat, Gambia zu verlassen. | |
Es gibt auch jeden Tag Gambier, die per Flugzeug das Land verlassen und auf | |
dieselbe Weise zurückkehren. Sie sind in einer ökonomisch stabilen Lage, | |
haben keinen Grund fortzugehen, weshalb man ihnen auch Visa erteilt. Von | |
solchen Menschen muss es mehr geben, dafür müsste die Regierung sorgen. | |
Dann wäre Reisen wieder ein Abenteuer und kein Leidensweg. | |
## Migration ist so alt wie die Menschheit | |
Im Augenblick sehen die Dinge nicht gut aus. Als Journalist habe ich viele | |
Geschichten über Rückkehrer gemacht. Eins haben alle gemeinsam: Es waren | |
die jämmerlichen Lebensbedingungen, die sie dazu gebracht haben, zu der | |
gefährlichen Reise aufzubrechen. Und diese Lebensbedingungen haben sich | |
kaum geändert. Nach wie vor haben viele keinen Grund zu bleiben. Diese | |
verzweifelten Rückkehrer kritisieren die Regierung und IOM dafür, dass sie | |
nicht bekommen haben, was man ihnen vor der Rückkehr versprochen hat. Eine | |
Gruppe von Rückkehrern hat das IOM-Büro in Gambia sogar mit Steinen | |
beworfen. | |
Aber: Migration ist so alt wie die Menschheit. Es wird Zeit, dass wir die | |
Schuld daran teilen und auch den Gewinn. Für Gambia heißt das: Jobs | |
schaffen und die Löhne so erhöhen, dass die, die einen haben, davon | |
anständig leben können. Für meine Kinder wünsche ich mir, dass sie auf | |
legalem Wege und mit regulären Dokumenten die Welt bereisen können. Auch | |
ich selbst würde gerne einmal Europa kennenlernen. Aber nicht auf dem | |
„Backway“, sondern als ein Afrikaner, der in Würde einreisen darf. | |
Übersetzung: Silke Mertins | |
4 Nov 2018 | |
## LINKS | |
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## AUTOREN | |
Saikou Suwareh Jabai | |
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