# taz.de -- Figurentheater in München und Berlin: Wer zieht bei mir die Stripp… | |
> Die Festivals „Wunder.“ in München und „Theater der Dinge“ in Berlin | |
> erzählen von künstlichen Körpern und machen Normen bewusst. | |
Bild: Das Grinsen einer Katze, Szene aus „A.L.I.C.E.“ des Stuttgarter Duos … | |
„Wir müssen reden“, sagt Anna Kpok. Und wann war das je nötiger als jetzt, | |
wo der Kultur gerade erneut der Hahn abgedreht wird: über den Wert von | |
Kunst, über das, was wir sein wollen – und vielleicht auch über Nähe. | |
Deshalb ist es gut, dass das gleichnamige Projekt des Berliner Kollektivs | |
nun nach dem Ende des Münchner Figurentheaterfestivals auch in seiner | |
Heimat zu erleben sein wird. | |
Wobei: „Erleben“ ist relativ. Die „Hörinstallation“ besteht in Münche… | |
in Berlin nur aus einem zehnminütigen Gespräch mit einer Performerin über | |
kryptische Fragen wie „Wo hörst du auf?“, bei dem das eigene Telefon alles | |
ist, was vom Objekttheater übrigbleibt. Abhängig von der eigenen Fragelust | |
und Schlagfertigkeit ist das mehr oder weniger spannend, kommt aber als | |
Format den Programmplanern des [1][Berliner Festivals „Theater der Dinge“] | |
zugute. | |
Denn während das Münchner Team um die Festivalleiterin Mascha Erbelding | |
sein zweiwöchiges Programm mit rund 30 Produktionen aus Deutschland, | |
Tschechien, Slowenien, Frankreich, Israel und der Schweiz noch punktgenau | |
zu Ende brachte (17. 10.–1. 11), trifft der „Lockdown light“ die Schaubude | |
und ihren künstlerischen Leiter Tim Sandweg voll. | |
## Ohne Masken kämpfen, knutschen, kuscheln | |
Der jubilierende Satz, „Puppen haben kein Corona“, mit dem man das Münchner | |
Festival „Wunder.“ noch ankündigen konnte, ist für das „Theater der Din… | |
(3. 11.–10. 11.) plötzlich wertlos geworden. Obwohl immer noch gilt, dass | |
sich Puppen und ihre Spieler ohne Bedenken und Masken bekämpfen, | |
beknutschen und beknuffeln können, muss das Berliner Festival komplett ins | |
Digitale ausweichen. Aus dem ursprünglichen Thema „Künstliche Körper“ wi… | |
„Künstliche Körper im digitalen Zeitalter“. | |
Was das heißt, wo die Künstlichkeit der Körper für das Figuren- und | |
Objekttheater ohnehin konstitutiv ist? In Berlin kommen vermehrt | |
futuristische Hybridwesen ins Spiel, es läuft zum Beispiel die Preview von | |
[2][„1/0/1 robots“] am 9. 11., worin es laut Sandweg um die Frage geht, | |
„wie sich Gender-Stereotype in der Robotik reproduzieren und wie man das | |
(künstlerisch) hacken könnte“. | |
Das am Sonntagnachmittag online gehende Stück „A.L.I.C.E lost in Cyberland“ | |
des Stuttgarter Duos Meinhardt & Krauss war in München live zu sehen. Dabei | |
waren einige Episoden von Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“ auf | |
unterschiedlich große Bildschirme mit Handydisplay-Proportionen ausgelagert | |
– mit oft faszinierenden, manchmal auch etwas schwerfälligen Überleitungen | |
zwischen beiden Ebenen. | |
## Für die Generation Internet | |
Deren inhaltlicher Mehrwert bleibt zwar bescheiden, aber die Inszenierung | |
kommt angenehm unpädagogisch der Erlebniswelt der Generation Internet | |
entgegen, die sich gerade während der Homeschooling-Etappe im ersten | |
Lockdown gerne mal selbst in Cyberwelten verlor. | |
So hoppelte das weiße Kaninchen „keine Zeit, keine Zeit“ rufend als Figur | |
über die Bühne und sein elektronisches Konterfei auf den diversen Displays | |
weiter, und die in diversen Größen auftretenden Alice-Puppen „tauchen“ | |
einen Arm oder den ganzen Körper in einen Bildschirm ein, wo ihre Konturen | |
zerfließen oder plötzlich das Bild eines realen Mädchens erscheint. | |
Im Stream wird dann auch die von Meinhardt und Krauss selbst verkörperte | |
Teegesellschaft mit ihren technoid-fantastischen Kopfbedeckungen nur | |
digital vermittelt zu sehen sein, was dem Abend über fluide Übergänge | |
zwischen biologischen, mechanischen und digitalen Körpern vielleicht eine | |
weitere Brechung hinzufügt. | |
Und falls nicht, wird immerhin die Vielfalt des Figurentheaters deutlich, | |
das nicht zwingend auf den Zauber abonniert ist, den man gemeinhin mit ihm | |
assoziiert. Auch wenn die poetische, auf der Schwelle zwischen Leben und | |
Tod, realer und Geisterwelt angesiedelte Produktion „Traversées“ des | |
Théâtre de l’Entrouvert ein, ja vielleicht das Münchner Highlight war, weil | |
Élise Vigneron in diesem traumschönen Stationendrama mithilfe einer ganzen | |
Reihe von künstlichen Körpern in eine andere Welt entführte. | |
Mal stand sie dafür mit bloßen Füßen und nassem Kleid im eiskalten Innenhof | |
des Münchner Stadtmuseums selbst im Gegenlicht, dann wieder kreierte sie | |
mit einem Puppenkopf an ihrem Hinterteil eine seltsam in sich verdrehte | |
Körperlichkeit oder zauberte die wohl fragilste Figur des Festivals in | |
einen Miniatur-Guckkasten hinein. Wozu? Einfach, weil zaubern schön ist. | |
## Aufforderung zur Befreiung | |
Das Münchner Figurentheaterfestival hat in seinem neuen Namen „Wunder.“ – | |
was man „wunder Punkt“ ausspricht – versucht, die Ambivalenz festzuhalten, | |
dass diese Theaterform durchaus auch harte Fakten anpacken kann. Von dem | |
ursprünglichen Festivalthema Macht und Geschichte sind freilich nur Reste | |
geblieben wie etwa [3][„Queer Papa Queer“, worin sich die Berliner | |
Puppenspielerin Ute Kahmann] mit der eigenen Familiengeschichte und der | |
schwulen Lebenswelt in Ost- und Westdeutschland auseinandersetzt. Denn auch | |
in München musste coronabedingt umdisponiert werden: Viele Gruppen kamen | |
mit weniger personalintensiven Stücken oder Outdoorversionen. | |
Auf physischer Kopräsenz wurde nach Möglichkeit beharrt, die Grenzen | |
dessen, was schon eine Figur und noch Theater ist, wurden dagegen weit | |
ausgelegt. So stattete etwa der israelische Theatermacher Ariel Doron einen | |
an unterschiedlichen Spielorten auftauchenden Fahrradanhänger mit einer | |
elektronischen Stimme aus, die eindringlich um Befreiung bat – und offenbar | |
nur von Kindern befreit werden konnte, die sich, anders als die meisten | |
Erwachsenen, nicht darum scheren, dass an der einzig zugänglichen Stelle | |
des Anhängers „nicht öffnen“ stand. Was uns zwar wenig über Körper, aber | |
viel über reflexhaften Gehorsam verrät. | |
Ein großer Meister in der Entlarvung dieses Reflexes ist der slowenische | |
Puppenspieler und Musiker Matija Solce vom tschechischen Teatro Matita, | |
der in „Happy Bones“ Existenzielles mit einem knuddeligen Panda verhandelt. | |
Der ist es leid, die Hand des Puppenspielers in seinem Hintern zu spüren | |
und nimmt im anarchischen Selbstbefreiungsfuror sogar seinen eigenen | |
Bühnentod in Kauf. | |
Ich habe „Happy Bones“ als Aufzeichnung gesehen und nur eine Kostprobe von | |
Solces Können live vor Ort, der seine Zuschauer ebenso raffiniert wie seine | |
aus ein paar Knochen, Socken und viel Nichts improvisierten Puppen | |
manipuliert. Bis die Zuschauer es plötzlich merken, vielleicht wacher auf | |
ihr Alltagshandeln blicken und sich fragen: Wie viel Puppe steckt in mir? | |
Wessen Hand steckt in meinem Allerwertesten und warum lasse ich es zu? | |
Solce löst solche Reaktionen durch sein schlitzohriges Kalkül aus, andere | |
Puppenspieler oder künstliche Körper verraten uns viel über Normen, | |
einfach, indem sie sie brechen. So etwa „Punch Agathe“: Der 16 Meter hohe | |
Hüne ist nicht nur der größte Kasperl der Welt, sondern obendrein schwarz | |
und weiblich. Mit Luft und einer Menge Technik gefüllt, hat sich die | |
rebellische Dame in München auf Shoppingtour unters Volk gemischt: | |
Exotisch, extravagant, kolossal passt die Gemeinschaftsproduktion der | |
Kompanien Gütesiegel Kultur/Stuttgart, Snuff Puppets/Melbourne und Espace | |
Masolo/Kinshasa weder in die lustige Kasperl- noch in eine andere Schublade | |
und verkörperte en passant mitten in der bayerischen Landeshauptstadt die | |
Komplexität dieser Welt. | |
5 Nov 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Figuren--und-Objekttheater-in-Berlin/!5629549&s=Theater+der+Dinge/ | |
[2] https://www.youtube.com/watch?v=i6soEOJ4KAg | |
[3] /Archiv-Suche/!5647678&s=Queer+Papa+Queer&SuchRahmen=Print/ | |
## AUTOREN | |
Sabine Leucht | |
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