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# taz.de -- Für Deutschen Buchpreis nominiert: Verzaubert von Jim Knopf und Li…
> In „Herzfaden“ beleuchtet Thomas Hettche die frühen Jahre der Augsburger
> Puppenkiste. Der Roman ist Hommage – und leicht wehmütig.
Bild: Eine von über 6.000 Marionetten der Augsburger Puppenkiste: Prinzessin L…
Eher selten bietet Vergangenheit Grund für ungetrübte Nostalgie. Die
deutsche ohnehin nicht. Auch die Geschichte einer so kindlich-unschuldig
anmutenden Angelegenheit wie der Augsburger Puppenkiste fordert von einem,
der darüber schreiben will, einen besonderen Doppelblick, denn das berühmte
Marionettentheater nahm seinen Anfang während des Zweiten Weltkriegs.
Der Schauspieler und Regisseur Walter Oehmichen hatte, als Soldat zu Beginn
des Kriegs in Frankreich stationiert, in einem von der Wehrmacht
requirierten Schulgebäude ein paar Handpuppen gefunden.
Die Stegreifaufführungen, die er damit vor seinen Kameraden in Szene
setzte, machten allen so viel Freude, dass er nach der Rückkehr ins
heimatliche Augsburg mit dem Aufbau eines kleinen Puppentheaters begann.
Walter Oehmichen schnitzte Marionetten, seine Frau Rose nähte die Kostüme,
und auch die beiden Töchter, damals noch Kinder, wurden als
Marionettenspielerinnen mit eingebunden.
1943 debütierte die Familie vor Augsburger Publikum mit einer selbst
gebauten Puppenbühne, „Puppenschrein“ genannt. Dieser Schrein wurde bei
einem Bombenangriff zerstört und später von Walter Oehmichen durch eine
kleinere, leichter zu transportierende Bühne ersetzt: Die „Puppenkiste“ war
geboren.
Besonders die jüngere Oehmichen-Tochter, Hannelore (1931–2003), war sehr
engagiert bei der Sache. Sie begann bereits mit 14 Jahren, selbst
Marionetten zu schnitzen, und löste als Erwachsene den Vater ganz als
Schnitzerin der Figuren – und später als Theaterleiterin – ab. Etwa 6.000
Marionetten, weiß Wikipedia, schnitzte Hannelore Oehmichen-Marschall im
Laufe vieler Jahre für die Augsburger Puppenkiste. Es ist vor allem ihre
Geschichte, die Thomas Hettche in „Herzfaden“ erzählt.
## Auf einem geheimnen Dachboden
Die Optik des Romans – das Schriftbild ist zweifarbig und wechselt die
Farbe mit der Erzählebene – stellt eine „kleine Hommage“, wie der Autor
sagt, an Michael Ende dar, und auch der Aufbau ist dessen „Unendlicher
Geschichte“ entlehnt. Endes „[1][Jim Knopf] und Lukas der Lokomotivführer�…
war eine der bekanntesten Produktionen der Augsburger Puppenkiste, und
umgekehrt trug auch die Puppenkistenbearbeitung des Stoffs und ihre
Ausstrahlung im Fernsehen immens zu dessen Popularität bei.
In der Rahmenhandlung von „Herzfaden“ gerät ein Mädchen, das sich nach dem
Besuch eines Puppentheaters von ihrem Vater losgerissen hat, auf einen
geheimen Dachboden im Theatergebäude. Selbst auf Marionettengröße
geschrumpft, trifft das Mädchen dort auf eine Reihe bekannter Figuren aus
Produktionen der Augsburger Puppenkiste – und auf eine elegante Dame in
weißem Kostüm: Es ist Hatü, wie Hannelore Oehmichen von ihrer Schwester
Ulla genannt wurde, die dem Mädchen nun ihre Geschichte erzählt.
Trotz zweifarbiger Optik und Michael-Ende-Hommage: „Herzfaden“ ist kein
Kinderbuch. Kann sein, dass es am meisten ein Buch für jene ist, die Kinder
waren, als einst die Augsburger Puppenkiste eines der größten Highlights im
spärlichen Fernsehprogramm darstellte. Darüber hinaus aber führt
„Herzfaden“, unaufdringlich und traumwandlerisch, auch in noch frühere
Zeiten, und spinnt feine Bezüge zwischen damals, heute – und auch jenem
anderen, dem bösen Damals.
Aus der Perspektive von Hatü, die acht Jahre alt ist, als der Krieg beginnt
und der Vater eingezogen wird, bildet das faschistische Deutschland halt
die Umwelt, in der sie aufwächst. Ein Lehrer, der besonders linientreu
agiert, bekommt einen Spitznamen verpasst, und Hatü vermisst eine jüdische
Klassenkameradin, aber ansonsten passen die Oehmichens sich an.
Hatü und Ulla sind im BDM, und Vater Oehmichen muss nicht mehr in den
Krieg, weil er als Spielleiter beim Theater arbeitet (diese Tatsache wird
allerdings nur sehr nebenbei erwähnt: Nach dem Krieg sagt der Vater, er
könne wegen dieser Position nicht entnazifiziert werden).
Hettche erfindet eine Szene, in der Hatü befremdet ist über den Eifer, mit
der ihre Schwester ein Nazilied singt, und eine andere, in der sie
betroffen auf das Elend jüdischer Bekannter reagiert. Später eine weitere,
in der Hatü als junge Erwachsene unangenehm berührt registriert, dass auf
einer Premierenfeier der „Puppenkiste“ zahlreiche ehemalige
Nazi-MitläuferInnen zugegen sind.
## Der kleine Prinz und Jim Knopf
Es ist eine Gratwanderung, denn der Autorenwille, der Hauptfigur ein quasi
angeborenes antifaschistisches Bewusstsein einzuschreiben, wird allzu
deutlich sichtbar.
Auf der anderen Seite sprechen die Projekte der Augsburger
PuppenspielerInnen für sich. „Der kleine Prinz“ wurde 1951 für das
Marionettentheater adaptiert – Hannelore Oehmichen schnitzte die Figur –,
als das Buch in Deutschland noch nicht Allgemeingut war.
Noch wagemutiger war das jugendliche Ensemble, als es um das 1960 gerade
neu erschienene „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ des damals noch
unbekannten Michael Ende ging. Wer weiß, wie dessen Karriere ohne die
Marionetten verlaufen wäre!
## Kulturgeschichte zum Nacherleben
Als das öffentliche deutsche Fernsehen noch in seinen Pioniertagen
steckte, lief „Jim Knopf“ 1961 schon in Schwarz-Weiß über die vorhandenen
Bildschirme. Das erste Puppenkisten-Stück, das im Fernsehen gezeigt wurde,
war allerdings „Peter und der Wolf“ gewesen – und das live, denn im Jahr
1953 gab es noch keine Möglichkeit der Aufzeichnung.
Auch dieses historische Ereignis hat Eingang in Hettches Roman gefunden,
atmosphärisch eindrucksvoll nachvollzogen. Die extreme, durch die großen
Scheinwerfer hervorgerufene Hitze im Hamburger Studio, in dem die
PuppenspielerInnen ohne das vertraute Publikum agieren müssen; im Kontrast
dazu der schneidend kalte Januartag draußen; ein nächtlicher Ausflug in die
Hamburger Hafengegend, den das junge Augsburger Team nach der Übertragung
unternimmt – so hätte es alles gewesen sein können.
Es ist ein fesselndes kleines Stück Kulturgeschichte zum Nacherleben.
## Zusammenarbeit mit dem Fernsehen
Die enge Zusammenarbeit mit dem Fernsehen sollte nach dieser Premiere ein
wichtiges Standbein für die „Puppenkiste“ werden, und Walter Oehmichen
entkoppelte die TV-Produktionen recht bald von jenen Aufführungen, die für
die Bühne entstanden. Beide „Jim Knopf“-Bücher wurden 1961/62 als
Fernsehserie produziert. Wohl nur wenige Menschen werden sich heute noch an
diese Produktion erinnern; viele später Geborene dagegen ziemlich
wahrscheinlich an die Neuproduktion in Farbe, die 1976 entstand und oft
wiederholt wurde.
Selbstverständlich gehört Jim Knopf zu den Marionetten, denen das Mädchen
in der Rahmenhandlung des Romans auf dem Dachboden begegnet, und wird zu
ihrem treuesten Begleiter. Auch Prinzessin Li Si kommt vor, [2][ebenso das
Urmel], der kleine Prinz und Kalle Wirsch, der König der Erdmännchen.
Dunklen Symbolcharakter verleiht Hettche einer Kasperfigur, vor der die
junge Hatü, obgleich sie selbst sie geschnitzt hat, sich in ihrer Jugend
aus scheinbar unerklärlichen Gründen fürchtet.
In der heutigen Rahmenhandlung wiederum klaut derselbe Kasper, zu
unheimlicher Größe angewachsen, dem Mädchen sein iPhone (etwas merkwürdig
übrigens, dieses Product Placement), so dass es kein Licht mehr machen
kann. Als einzige Lichtquelle – außer dem Mond – auf dem dunklen Dachboden
spielt das Telefon eine vergleichsweise große Rolle für die Rahmenhandlung.
## Smartphone als neues Zeitalter
Die existenzielle Bedeutung, die das Gerät für das Mädchen hat, wird
durchaus etwas überbetont. Hettche verzichtet zwar darauf, Smartphone und
Puppentheater als potenziell gegensätzliche Kulturträger gegeneinander
auszuspielen. Beide finden im Roman ihren Platz – und doch signalisiert die
dominante Präsenz des in der Dunkelheit so tröstlich leuchtenden
Smartphone-Screens auch den Anbruch eines neuen Zeitalters.
„Herzfaden“ ist vieles gleichzeitig: literarische Geschichtsstunde, Spiel
mit Erzähltraditionen, künstlerische Hommage. Aber eben auch ziemlich
nostalgisch im Sinne von: ein klein wenig wehmütig. Da war was, das kommt
nicht wieder.
Ja, [3][klar gibt es sie noch], die Augsburger Puppenkiste. Aber dass diese
kleinen hölzernen Figuren einst so große Bedeutung für die kulturelle und
humanitäre Bildung praktisch der ganzen westlichen Hälfte des jungen
Nachkriegsdeutschlands hatten, das hatte man ja schon fast vergessen. Im
Lichte des unermüdlich leuchtenden Smartphones wirkt die Geschichte von
Hatü und ihren Figuren wie ein Märchen aus ganz alten Zeiten.
9 Oct 2020
## LINKS
[1] /Germanistin-ueber-Jim-Knopf/!5544889
[2] /Nachruf-auf-Max-Kruse/!5226515
[3] /60-Jahre-Augsburger-Puppenkiste/!5074962
## AUTOREN
Katharina Granzin
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