# taz.de -- Fehler der Staatsanwaltschaft Hamburg: „Wir haben den Amed Amed“ | |
> Der Syrer Amad Ahmad starb nach einem Brand in der JVA Kleve, wo er | |
> fälschlicherweise saß. Interne Papiere zeigen nun, wie es dazu kam. | |
Bild: In Zelle 143 der JVA Kleve saß Amad Ahmad ein | |
HAMBURG taz | Mindestens drei Anfänge hat diese Geschichte, drei Fäden, die | |
zu einem einzigen zusammenlaufen und am Ende in eine Katastrophe münden: Im | |
September 2018 bricht in einer Gefängniszelle am Niederrhein ein Feuer aus. | |
[1][Der Insasse stirbt wenig später an den Folgen seiner Verletzungen]. Das | |
Opfer ist ein 26-jähriger Mann aus Syrien. Dass die Behörden versagt haben, | |
ist unstrittig. Sie haben einem Unschuldigen ohne Grundlage die Freiheit | |
entzogen, zweieinhalb Monate lang. | |
Wie sich die Schuld genau verteilt, soll jetzt ein Untersuchungsausschuss | |
des nordrhein-westfälischen Landtages klären. Nach Recherchen der taz und | |
[2][des NDR-Politikmagazins „Panorama 3“] muss ein erheblicher Anteil an | |
dem katastrophalen Ende einer Behörde zugeschrieben werden, deren Rolle | |
bisher kaum beachtet wurde: die Hamburger Staatsanwaltschaft. | |
Faden Nummer eins ist gesponnen aus dem Namen und der Herkunft des Opfers. | |
Der Mann heißt Amad Ahmad. Der Nachname ist ein islamischer Allerweltsname | |
arabischen Ursprungs, der in vielen Ländern vorkommt. Der Vorname Amad | |
hingegen ist eindeutig kurdisch. Amad Ahmad ist, wie seine Brüder und seine | |
Eltern, vor dem Krieg aus Syrien geflüchtet. In Deutschland hoffte er auf | |
eine gute Zukunft. „Er liebte das Leben“, sagt seine Mutter. Als | |
Kriegsflüchtling steht ihm in Deutschland humanitärer Schutz zu. | |
Faden Nummer zwei beginnt in der Silvesternacht 2015/2016. Amad war da noch | |
gar nicht in Deutschland. Junge Männer vorwiegend nicht-deutscher Herkunft | |
belästigten damals in Gruppen junge Frauen, in Köln und auch auf der Großen | |
Freiheit in Hamburg-St. Pauli. Fast alle Täter entkamen. Seitdem geht die | |
Angst vor sexuellen Übergriffen durch nicht-weiße Männer um. Polizei und | |
Staatsanwaltschaft wollen sich bei dem Thema keine Nachlässigkeiten | |
vorwerfen lassen. | |
## Festnahme wegen mutmaßlicher Belästigung | |
Am 6. Juli 2018 erstatten junge Frauen Anzeige gegen Amad. Er habe sie an | |
einem niederrheinischen Badesee mit anzüglichen Gesten belästigt. Die | |
Polizei nimmt ihn fest. Amad Ahmad gibt seine Identität korrekt an: geboren | |
am 1. 1. 1992 in Aleppo, Syrien. Die Polizisten aus dem Kreis Kleve | |
gleichen den Namen mit einer digitalen Fahndungsdatenbank ab. Dabei stellen | |
sie fest, dass von der Hamburger Staatsanwaltschaft ein Mann gesucht wird, | |
der einen ähnlich lautenden Aliasnamen trägt. | |
Am frühen Abend des 6. Juli geht beim LKA Hamburg ein Fax der | |
Kreispolizeibehörde Kleve ein, das der taz und „Panorama 3“ vorliegt: | |
„Tag, Kollege!“ heißt es da. „Wir haben heute gegen 16.00 Uhr den Amed A… | |
… im Rahmen eines Sexualdelikts festgenommen.“ Geboren sei der Mann am 1. | |
1. 1992 in Aleppo. In Kleve habe man festgestellt, dass Hamburg nach ihm | |
fahnde. „Bei euch wird er u. a. Ago, Tombouctou Ana und Ago, Tombouctou | |
geführt. Ich bitte um Übersendung der Haftbefehle.“ | |
Hier beginnt der dritte und entscheidende Faden der Geschichte, der Faden, | |
an dem alles hängt. Es ist der Faden, den die Vollstreckungsbehörde in der | |
Hand hat. Zweimal hatte die Staatsanwaltschaft Hamburg vor dem Amtsgericht | |
die Verurteilung eines jungen Mannes aus Mali erwirkt, dem jeweils | |
Diebstahl nachgewiesen wurde. Eine Geldstrafe in Höhe von 285 Euro hatte er | |
nicht bezahlt. Die Staatsanwaltschaft schrieb ihn zur Fahndung aus, um eine | |
„Ersatzfreiheitsstrafe“ gegen ihn zu vollstrecken. | |
## Mali ist nicht Syrien | |
In einem Vermerk der Staatsanwaltschaft heißt es: „Die rechtmäßig geführte | |
Personalie lautet: GUIRA, Amedy, geb. am 1. 1. 1992 … Staatsangehörigkeit: | |
malisch, Geburtsland: Mali.“ Als möglicher Geburtsort wird „Tombouctou“ | |
genannt, die berühmte Wüstenstadt am Südrand der Sahara. Die hat mit Aleppo | |
durchaus etwas gemein. Beide Städte wurden von der Unesco als | |
„Weltkulturerbe der Menschheit“ eingestuft. Und beide wurden in den | |
vergangenen Jahren von Kriegen verwüstet. | |
Aber die Entfernung zwischen Tombouctou und Aleppo beträgt 4.500 Kilometer. | |
In den Fahndungsdatenbanken ist ein Foto des von Hamburg gesuchten | |
malischen Staatsbürgers hinterlegt. Es zeigt einen jungen Mann schwarzer | |
Hautfarbe. Amad aus Aleppo ist hellhäutig. | |
Der Aliasname Amedy Amedy, der in der Fahndungsausschreibung für den | |
flüchtigen Malier verzeichnet ist, bildet die einzige Verbindung zu dem in | |
Kleve festgenommenen Mann. Die Übereinstimmung des Geburtsdatums 1. 1. 1992 | |
kann kaum als Anhaltspunkt gelten, weil für Zehntausende Geflüchtete, deren | |
Geburtstag nicht bekannt ist, ersatzweise dieses Datum eingetragen wird. | |
Die Ähnlichkeit mit einem Aliasnamen genügt der Staatsanwaltschaft | |
Hamburg, die JVA Kleve um die Vollstreckung der Haft zu bitten. Dass in der | |
Faxmitteilung der Polizei Kleve der Geburtsort Aleppo angegeben war, | |
scheint in Hamburg niemanden zu stören. | |
## Experte spricht von Freiheitsentziehung | |
„Hauptsache, erst mal wegsperren. So darf man in einem demokratischen | |
Rechtsstaat nicht mit Menschen umgehen. Das ist Freiheitsentziehung“, sagt | |
Rechtsanwalt Ernst Medecke. Als langjähriger Deputierter der Hamburger | |
Justizbehörde kennt er sowohl die Staatsanwaltschaft Hamburg als auch die | |
Regeln für den Strafvollzug bestens. Medecke präzisiert: „Die | |
Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde hätte auf dem schnellsten Weg | |
die Identität des Mannes in Kleve klären müssen.“ | |
Stattdessen schickt die Staatsanwaltschaft Hamburg am 20. Juli 2018, also | |
genau zwei Wochen nach der Festnahme, einen Brief per Post an die JVA | |
Kleve. Die taz und „Panorama 3“ haben eine Kopie des Schreibens. Darin wird | |
gefragt, ob „Nachweise über die dort geführten Personalien des Verurteilten | |
vorliegen“. Am 9. August kommt der Brief wieder nach Hamburg zurück mit dem | |
handschriftlichen Vermerk der JVA Kleve: „Hier liegen keine Nachweise vor.“ | |
„Spätestens da hätte die Staatsanwaltschaft Hamburg unverzüglich die | |
Entlassung des Inhaftierten anordnen müssen“, sagt Experte Medecke. Aber | |
das passiert nicht. Amad bleibt im Gefängnis. Am 17. September brennt es in | |
der Zelle. Mutmaßlich hat Amad das Feuer selbst gelegt. Aus Verzweiflung? | |
Man weiß es nicht. Hilfe kommt zu spät. Am 29. September erliegt der junge | |
Mann aus Aleppo seinen schweren Brandverletzungen. Die Hamburger | |
Staatsanwaltschaft erkundigt sich erst nach dem Brand wieder nach dem | |
Menschen, gegen den sie zu Unrecht die Haft vollstreckt hat. | |
## Staatsanwaltschaft gegen Staatsanwaltschaft | |
Ob die Verantwortlichen Konsequenzen werden tragen müssen? Die | |
Staatsanwaltschaft Kleve ermittelt offiziell gegen sechs örtliche | |
Polizeibeamte wegen Freiheitsberaubung. Im Gespräch mit „Panorama 3“ und | |
der taz macht Oberstaatsanwalt Günter Neifer klar, dass auch die Hamburger | |
Kollegen im Fokus der Untersuchungen stünden. | |
„Wir gehen natürlich auch der Frage nach, ob seitens der Staatsanwaltschaft | |
Hamburg als Vollstreckungsbehörde Fehler gemacht wurden, die von | |
strafrechtlicher Relevanz sind“, sagt Neifer. Der Freiheitsberaubung mache | |
sich schuldig, wer eine solche zumindest billigend in Kauf nehme, „eine nur | |
fahrlässige Freiheitsberaubung“ sei nicht strafbar, so Neifer. Für eine | |
„abschließende Bewertung“ sei es noch zu früh. | |
Die Hamburger Staatsanwaltschaft teilt auf Anfrage zunächst mit, sie wolle | |
Fragen zu dem Fall „mit Rücksicht auf die parlamentarischen Ermittlungen“ | |
nicht beantworten. Dabei gibt es der Fragen viele, auch diese: Am 31. Mai | |
2018 verschickte der Leiter der Hamburger Staatsanwaltschaft, Dr. Ewald | |
Brandt, eine Mail an seine Mitarbeiter. Mit Hinweis auf die | |
Arbeitsüberlastung ordnete er an, bestimmte Tätigkeiten für drei Monate | |
„ruhen“ zu lassen, darunter auch die Bearbeitung von „Geldstrafen“. Die | |
Nachricht machte im vergangenen Sommer in Hamburg Schlagzeilen. Der Fall | |
Amad Ahmad fällt in diese Zeit. | |
## Hamburg wiegelt ab | |
Steht die Untätigkeit der Staatsanwaltschaft damit in Zusammenhang? Auch | |
dazu gibt es zunächst keine Antwort. Aber dann ändert die | |
Staatsanwaltschaft ihre Linie. Der Fehler bei der Identitätsfeststellung | |
liege „ausschließlich im Verantwortungsbereich der Polizei“, teilt die | |
Behörde nun mit. „Hinweise auf dienstliches oder strafrechtliches | |
Fehlverhalten der eigenen Mitarbeiter“ sehe die Staatsanwaltschaft nicht. | |
Auch die „sonstigen Geschäftsabläufe“ hätten „keinen bestimmenden Einf… | |
auf den Fall gehabt. | |
Aufsicht über die Staatsanwaltschaft führt die Hamburger Justizbehörde. Die | |
teilt auf Anfrage mit, nach Auskunft der Staatsanwaltschaft liege kein | |
dienstliches Fehlverhalten vor. Deshalb gebe es keinen Grund für „ein | |
Einschreiten“. | |
29 Jan 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Ermittlungen-gegen-Polizeibeamte/!5539750 | |
[2] https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/panorama3/index.html | |
## AUTOREN | |
Stefan Buchen | |
Philipp Hennig | |
## TAGS | |
JVA Kleve | |
Flüchtlinge | |
Justizskandal | |
Staatsanwalt | |
Brand | |
JVA Kleve | |
Schwerpunkt Rassismus | |
NRW | |
JVA Kleve | |
JVA Kleve | |
JVA Kleve | |
JVA | |
NRW-SPD | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Verbrannt in der JVA Kleve: Manipuliert bis in den Tod | |
Amad A. saß grundlos in Haft und verbrannte in seiner Zelle. Die Eltern | |
glauben nicht an Suizid. Doch die Ermittlungen wurden eingestellt. | |
Tod im Gewahrsam: Tatort Polizeistation | |
Immer wieder sterben nicht weiße Menschen in Gewahrsam. Dem will die | |
antirassistische Kampagne „Death in Custody“ etwas entgegensetzen. | |
Nach Feuertod eines Syrers in Kleve: Experten kritisieren Knast-Zustände | |
Eine vom NRW-Justizminister eingesetzte Kommission kritisiert die Zustände | |
in Gefängnissen. Die Zahl der psychiatrischen Behandlungen müsse steigen. | |
Tod in der Haft in JVA Kleve: Bericht über manipulierte Datensätze | |
Das Magazin „Monitor“ sieht Hinweise, dass im Fall eines unschuldig | |
inhaftierten Syrers gezielt Daten manipuliert wurden. Innenminister Reul | |
mahnt zur Vorsicht. | |
Tod eines Geflüchteten in der JVA Kleve: Gutachten weist Widersprüche auf | |
Dem WDR liegt das Gutachten zum Brand in einer Zelle vor, bei dem ein Syrer | |
starb. Experten zufolge gibt es darin Widersprüche und zweifelhafte | |
Einschätzungen. | |
Brand in JVA Kleve: Die Aufklärung des „Suizids“ beginnt | |
Der Flüchtling Amad A. verbrannte im Gefängnis – die Suizidthese der | |
Behörden ist unglaubwürdig. Jetzt kommt ein Untersuchungsausschuss. | |
„Monitor“-Recherche zu Brand in Kleve: Zweifel am Gutachten | |
Nach dem Verbrennungstod eines syrischen Häftlings gibt es neue Fragen. Ein | |
Experte hält die bisherige Schlussfolgerung zur JVA Kleve für unstimmig. | |
Zweifel am Suizid in der JVA Kleve: Tödlicher Knast | |
SPD und Grüne in NRW haben im Fall Amed A. einen Untersuchungsausschuss | |
beschlossen. Die Umstände des Falls seien „realitätsfern“. |