# taz.de -- Erster Jahrestag der Flutkatastrophe: Normal ist noch immer nichts | |
> An Ahr und Erft haben die Menschen den über 180 Opfern der Flut von 2021 | |
> gedacht. Mit dabei: Erfolgsgeschichten, aber auch Frust. | |
Bild: Bad Neuenahr: Auch ein Jahr danach sind die Folgen der verheerenden Flut … | |
BAD NEUENAHR-AHRWEILER taz | Mit einer Gedenkfeier im Kurpark von Bad | |
Neuenahr (Rheinland-Pfalz) und einem ökumenischen Gottesdienst in der | |
Herz-Jesu-Kirche in Euskirchen (Nordrhein-Westfalen) haben am ersten | |
Jahrestag der Hochwasserkatastrophe an Ahr und Erft Tausende der mehr als | |
180 Menschen gedacht, die [1][in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 in | |
den Fluten] ihr Leben verloren haben. | |
In Ansprachen machten übereinstimmend Bundespräsident Frank-Walter | |
Steinmeier, NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) und die | |
rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) den Klimawandel | |
für die Flutkatastrophe verantwortlich, bei der innerhalb von wenigen | |
Stunden aus kleinen Bächen und Flüssen reißende Sturzfluten geworden waren. | |
„[2][Das sind die Folgen unseres Umgangs mit der Erde“, sagte Steinmeier]. | |
Den Schutz der Klimas und die Bewahrung der Schöpfung nannte der Chef der | |
neuen schwarz-grünen NRW-Landesregierung Wüst als größte Herausforderung. | |
In Bad Neuenahr ist zwei Stunden vor Beginn der offiziellen Gedenkfeier der | |
12-jährige Vasil Toderov vor Ort. Es nimmt ihn sichtlich mit, aber er | |
möchte der taz erzählen, was er erlebt hat. „Immer noch Schock“, sagt er … | |
Rückblick auf die Nacht, in der sein vier Jahre jüngerer Bruder vor seinen | |
Augen fast ertrunken wäre. Mit einem Knall seien die Fenster ihres | |
gemeinsamen Zimmers zersprungen, innerhalb von Sekunden habe es unter | |
Wasser gestanden. | |
Seinen Bruder, der in den Fluten untergegangen war, habe er gepackt. Mit | |
letzter Kraft stieß er die Tür auf, um die Eltern zur Hilfe rufen zu | |
können. Die Mutter hat ihn Mund-zu-Mund beatmet. Der Bruder lebt, „aber ins | |
Schwimmbad kann er immer noch nicht“ – Wasser ist für ihn Bedrohung. | |
„Normal würde ich nicht sagen“, beschreibt Vasil sein Leben in bis heute | |
wechselnden Quartieren, denn die alte Wohnung ist noch nicht | |
wiederhergestellt. | |
„Normal“ ist noch immer nichts im Ahrtal. Auf dem Weg zur Gedenkfeier in | |
der kleinen Kurstadt kommen die Besucher von nah und fern an unzähligen | |
Baustellen vorbei. Sie passieren Geschäfte, Restaurants und Hotels, die | |
sich in neuem Glanz herausgeputzt haben, aber auch schlammbespritzte | |
Häuser, bei denen blinde oder zersprungene Glasscheiben an die Flut | |
erinnern. | |
## Unzufriedenheit und Dank | |
Die Kolonnaden des einst prächtigen Kurhauses sind mit Holzplatten | |
vernagelt. Das Flussbett der Ahr ist zwar inzwischen von Schutt und Abfall | |
gereinigt, aber das von lehmigem Schotter geprägte Ufer wirkt unnatürlich, | |
nackt und verletzt. Auf der Gedenkfeier sprechen der Bürgermeister der | |
gastgebenden Stadt, die örtliche Landrätin, die rheinland-pfälzische | |
Ministerpräsidentin Malu Dreyer und fünf Betroffene. Ein Bläserquintett aus | |
Sinzig spielt „Nobody Knows the Trouble I've Seen“. | |
In allen Reden klingt beides an, der Dank für die beispiellose Hilfe aus | |
der ganzen Republik, die sichtbare Fortschritte beim Wiederaufbau | |
ermöglicht hat, aber auch die Unzufriedenheit angesichts bürokratischer | |
Hürden und anderer Hindernisse: dem Mangel an Gutachtern, an Fachkräften | |
und Baumaterial. | |
„Inzwischen gibt es viele sichtbare – sie nennen es ‚Lichtblicke‘ hier … | |
Tal, sagt Ministerpräsidentin Dreyer über diesen Zwiespalt. „Ich kann | |
verstehen, wenn Ihnen das alles trotzdem nicht schnell genug geht, wenn Sie | |
einfach nur wollen, dass es vorangeht. Ich versichere Ihnen, wir arbeiten | |
jeden Tag hart daran, dass für alle der Wiederaufbau gut gelingt.“ | |
Und sie nennt die dramatischen Zahlen: 65.000 Menschen hat die Flut | |
getroffen, 42.000 allein im Ahrtal, 9.000 Gebäude wurden zerstört oder | |
stark beschädigt, viele davon können nicht dort wieder aufgebaut werden, wo | |
sie standen. Der Wiederaufbau soll nachhaltig sein, eine Katastrophe wie | |
vor einem Jahr soll sich nicht wiederholen können. | |
## Sechs Tonnen Biomüll | |
Besonders eindrucksvoll sind die Berichte von fünf Betroffenen, die die | |
Flut zum Teil unter dramatischen Umständen überlebt haben, die mit ihren | |
Erfolgsgeschichten Mut machen wollen. Da ist zum Beispiel der Bäckermeister | |
und seine Frau, deren Backstube und Geschäft in der Flutnacht verwüstet | |
wurden. Sechs Tonnen verdorbene Lebensmittel hätten entsorgt werden müssen. | |
Im April habe man das Geschäft wieder eröffnen können, dank der | |
beispiellosen Hilfe; ein Bäckermeisterkollege aus Sachsen habe sich | |
besonders eingesetzt. | |
Eine Heilpraktikerin aus Sinzig, die ihr Haus in letzter Minute verlassen | |
konnte, berichtet von ihrer körperlichen und seelischen Erschöpfung nach | |
der Flut. Sie sei aber auch an den Herausforderungen gewachsen, weil „in | |
der Not die Gemeinschaft da ist.“ Eine Ahranwohnerin aus der Gemeinde | |
Schuld versichert: „Hilfsbereit wird wieder groß geschrieben“. Sie wohnt | |
inzwischen dank der vielen Hilfsangebote wieder in ihrem Haus, das in den | |
Fluten versunken war. | |
Und die Leiterin eines Seniorenheims in Altenburg, die in der Flutnacht | |
irgendwie die Rettung der 87 BewohnerInnen ins zweite Obergeschoss | |
bewerkstelligen konnte, während sie ohne Nachricht um ihren Lebensgefährten | |
bangte, dankt für „die schönen Erlebnisse“ der Hilfsbereitschaft: „Wir | |
schaffen das!“, so ihr Appell. | |
Auch der Freitag ist im Ahrtal dem Gedenken an die Flutkatastrophe | |
gewidmet. Um 18 Uhr läuten dort die Glocken aller Kirchen. Tausende wollen | |
durch das 40 Kilometer lange Tal eine Menschenkette bilden, als Zeichen des | |
Erinnerns und der Solidarität. | |
15 Jul 2022 | |
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## AUTOREN | |
Christoph Schmidt-Lunau | |
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