# taz.de -- Ermittlungen im Mordfall Lübcke: Unter Gewaltbereiten | |
> Beging der mutmaßliche Lübcke-Mörder die Tat allein? Eine Zeugenaussage | |
> mehrt Zweifel. Er bewegte sich lange in der Neonazi-Szene. | |
Bild: Kundgebung gegen rechte Gewalt in Berlin. War Stephan E. ein Einzeltäter? | |
WIEBADEN/BERLIN taz | Bisher, so hieß es von der Bundesanwaltschaft, habe | |
man im Mordfall Lübcke keine Hinweise auf Mittäter des Tatverdächtigen | |
Stephan E. Das aber ist nur die halbe Wahrheit. Denn offenbar gehen die | |
Ermittler seit Tagen einem Hinweis nach, der das Gegenteil bedeuten könnte. | |
Schon nach dem Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke am | |
2. Juni sagte nach taz-Informationen ein Nachbar der Polizei, er habe vom | |
Tatort zwei Autos mit hoher Geschwindigkeit wegfahren sehen. Laut | |
Süddeutscher Zeitung soll der Mann eines der Fahrzeuge als VW Caddy erkannt | |
haben – genau solch ein Auto soll der Verdächtige Stephan E. fahren. Das | |
zweite Auto konnte der Nachbar nicht genauer beschreiben. | |
Wenn diese Aussage stimmt: Wer saß dann in dem zweiten Wagen? Damit mehren | |
sich die Zweifel daran, dass Stephan E. tatsächlich [1][als Einzeltäter | |
handelte]. Denn der 45-Jährige bewegte sich lange Jahre aktiv in der | |
rechtsextremen Szene – auch in Kreisen, die offen zur Militanz neigten. Die | |
Frage der Ermittler ist nun: Hielten hier Kontakte weiter an? | |
Mit einem Kopfschuss aus nächster Distanz soll E. Lübcke vor dessen Haus in | |
Wolfhagen-Istha bei Kassel [2][getötet haben]. Eine DNA-Spur am Hemd | |
Lübckes führte die Ermittler zu dem Täter. | |
## Auch „Schläfer“ müssen in Betracht gezogen werden | |
Die Bundesanwaltschaft vermutet ein rechtsextremistisches Tatmotiv. Sie | |
erklärte zuletzt auch, nach Mittätern zu ermitteln – bisher aber ohne | |
Anhaltspunkte. Und Verfassungsschutz und Polizei beteuern, seit 2009 sei E. | |
nicht mehr auffällig gewesen. Aber Bundesverfassungsschutzchef Thomas | |
Haldenwang betonte zuletzt mit Blick auf den Fall Stephan E., man müsse | |
auch unter Rechtsextremen „Schläfer“ in Betracht ziehen. Stephan E. | |
jedenfalls bewies früh, dass er zu schwerster Gewalt, auch zu Terror bereit | |
ist. Schon 1992 stach er in Wiesbaden auf einen Migranten mit einem Messer | |
ein; der Mann überlebte nur knapp. Ein Jahr später legte E. auch eine | |
Rohrbombe in ein Auto vor eine hessische Asylunterkunft und zündete den | |
Wagen an. Ein Bewohner konnte den Brand rechtzeitig löschen. | |
Beide Taten verübte Stephan E. allein, den Sicherheitsbehörden galt er | |
damals als „extrem gewaltbereit“. Aber: In den Folgejahren hatte er Kontakt | |
zu genau den Rechtsextremen, die den militanten Gruppen von Combat18 und | |
Oidoxie Streetfighting Crew zuzurechnen sind. | |
Combat18 gründete sich 1992 in Großbritannien. Anfang der 2000er Jahre fiel | |
die Truppe auch in Deutschland auf, als militanter Ableger des | |
„Blood&Honour“-Netzwerks, dessen Mitglieder etwa dem untergetauchten | |
NSU-Trio halfen. Combat18 hantierte mit Waffen, bedrohte politische Gegner | |
und schwadronierte über Terror und einen „Rassenkrieg“. Dann verschwand die | |
konspirative Gruppe – um Ende 2017 wieder für Aufsehen zu sorgen, als ein | |
Dutzend Mitglieder bei einem Schießtraining in Tschechien erwischt wurde. | |
Einer der damals Festgestellten: der Kasseler Stanley R. Seit den | |
Neunzigern ist er in der Szene aktiv, auch er gilt als gewaltbereit. Das | |
hessische LKA attestierte ihm bei seinem Auftreten ein „Höchstmaß an | |
Konspirativität“ und verdächtigte R. 2014, gar der Deutschlandchef von | |
Combat18 zu sein. | |
## „militante Netzwerke gewaltbereiter Neonazis“ | |
Von Stephan E. nun gibt es Fotos, die ihn Anfang der 2000er Jahre in Kassel | |
auf rechtsextremen Veranstaltungen mit ebenjenem Stanley R. zeigen. Aus | |
Kreisen des früheren hessischen NSU-Ausschusses heißt es, auch mit anderen | |
Combat18-Akteuren habe E. Umgang gepflegt. Ließ er sich von deren | |
militanter Strategie nachhaltig beeinflussen? Besorgte er, wenn er | |
tatsächlich der Täter war, aus diesen Kreisen womöglich seine Tatwaffe? | |
Waren Vertreter gar in Istha vor Ort, sofern die Aussage des | |
Lübcke-Nachbars stimmt? | |
Die Vertreter von Combat18 waren in Hessen jedenfalls nicht die Einzigen, | |
die zur Militanz neigten. Aktiv war dort auch die sogenannte Oidoxie | |
Streetfighting Crew. Auch hier sammelten sich gewalttätige Neonazis, auch | |
hier war Stanley R. dabei. Der sah sich dem Vorwurf ausgesetzt, dass 2006 | |
auf seiner Geburtstagsfeier die NSU-Mörder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt | |
anwesend waren. Ermittler konnten den Verdacht indes nicht erhärten. | |
Aber: Wenig später verübte der NSU tatsächlich in Kassel seinen neunten | |
Mord, am 6. April 2006 an dem Internetcafé-Betreiber Halit Yozgat. | |
Stephan E. war damals noch in der Neonazi-Szene aktiv dabei. Kirsten | |
Neumann von der Mobilen Beratung Kassel berichtet, wie er 2007 mit anderen | |
Rechtsextremen eine ihrer Veranstaltungen störte, es kam zu | |
Handgreiflichkeiten. Auch sie spricht von seit Jahren existierenden | |
„militanten Netzwerken gewaltbereiter Neonazis“ in Hessen. | |
## Der hessische Verfassungsschutz unter Druck | |
Und: Die Kasseler Szene, vor allem Combat18 und die Oidoxie Streetfighting | |
Crew, pflegten auch enge Kontakte zu Dortmunder Neonazis – wo der NSU 2006 | |
ebenfalls mordete. Auffällig auch hier: Just in Dortmund fiel Stephan E. | |
2009 das letzte Mal polizeilich auf. Mit gut 300 weiteren Neonazis griff er | |
dort eine DGB-Kundgebung an, mit Steinen und Knüppeln. | |
Die Verbindungen von Stephan E. zu gewaltbereiten Neonazis waren offenbar | |
sehr eng. Die Frage ist nur: Hielt diese Verbindung auch in den vergangenen | |
Jahren an? Und was wussten die Sicherheitsbehörden davon? Der hessische | |
Verfassungsschutz gerät nun unter Druck. Nach taz-Informationen hatte er | |
frühere Akten zu Stephan E. bereits aussortiert – angeblich wegen der | |
datenschutzrechtlichen Löschfrist von fünf Jahren. Die Linke sieht darin | |
einen Skandal. Denn seit 2012, seit dem Auffliegen des NSU, gibt es ein | |
Löschmoratorium für Behördenakten über die rechte Szene. „Sollten hier | |
illegal Akten vernichtet worden sein, wäre das ein Skandal unerträglichen | |
Ausmaßes“, sagte der hessische Linken-Geschäftsführer Hermann Schaus. | |
Ein Sprecher des Geheimdienstes widersprach: Die Akten seien wegen der | |
Löschfristen nur unter Verschluss und für die Arbeit gesperrt. Sie lägen | |
aber weiter vor – und könnten vom Datenschutzbeauftragten eingesehen | |
werden. Die Linke beantragte am Mittwoch indes zugleich, alle früheren | |
Akten des hessischen NSU-Ausschusses, die Stephan E. und sein Umfeld | |
beträfen, dem Parlament erneut vorzulegen. | |
## „Gefahr von rechten Strukturen unterschätzt“ | |
Unter Druck geraten die Sicherheitsbehörden nun aber auch wegen ihres | |
Umgangs mit Combat18. Denn das Netzwerk wurde von ihnen zuletzt weitgehend | |
unangetastet gelassen. Die Gruppe sei von den Behörden „gefährlich | |
unterschätzt“ worden, kritisierte die Linke-Innenexpertin Martina Renner. | |
Die Verbindungen von Stephan E. in das Netzwerk müssten nun „sorgfältig | |
geprüft“ werden. | |
Auch der Grüne Konstantin von Notz konstatiert, dass „die Gefahr, die von | |
rechten Einzeltätern und Strukturen ausgeht, viel zu lange massiv | |
unterschätzt wurde“. Auch was den Umgang mit Combat18 angeht, „stellen sich | |
zahlreiche Fragen zur Rolle der Sicherheitsbehörden“. | |
Diese werde man nun an die Bundesregierung richten. Für kommenden Mittwoch | |
ist bereits eine Sondersitzung des Innenausschuss im Bundestag zum Mordfall | |
Walter Lübcke anberaumt. | |
19 Jun 2019 | |
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## AUTOREN | |
Konrad Litschko | |
Christoph Schmidt-Lunau | |
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