# taz.de -- Entwicklung von Coronamedikamenten: Am besten als Tablette | |
> Die Impfquote dümpelt, die Maßnahmen nerven – und die Inzidenz steigt. | |
> Zeit für die Frage, was eigentlich aus den neuen Mitteln gegen Covid | |
> wurde. | |
Bild: Coronapatient in Barcelona im September 2020: Viele neue Medikamente gibt… | |
Jens Spahn war merklich stolz. Die neuen Corona-Arzneien würden ab der | |
folgenden Woche „in Deutschland als erstem EU-Land eingesetzt“, sagte der | |
Bundesgesundheitsminister im Januar dieses Jahres. 200.000 Dosen | |
sogenannter monoklonaler Antikörper hatte die Bundesregierung gerade | |
eingekauft, fast eine halbe Milliarde Euro war der Spaß teuer gewesen. | |
Man wolle Risikopatienten mit dem Mittel schützen, hieß es. Mit der Arznei | |
und den Impfungen, so sah es damals aus, würde man sich der Pandemie | |
endlich entledigen können. Ein Fall, der leider nie eintrat. | |
Vielversprechende Medikamente gab es zwar noch häufiger. Das Virus breitet | |
sich dennoch wieder stark aus. Was also wurde aus den neuen Arzneien, die | |
das Überleben trotz Infektion sichern können? | |
Kandidaten gab und gibt es reichlich. Der Verband forschender | |
Arzneimittelhersteller in Deutschland zitiert aktuell die ungeheure Zahl | |
von 625 Wirkstoffen, die als Therapeutika gegen eine Corona-Infektion oder | |
Coviderkrankung erforscht werden, teils sogar schon an Patienten. Und ein | |
Expertenteam der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA listet zehn dieser | |
Wirkstoffe bereits als „vielversprechend“. Das ist zwar keine große | |
Ausbeute. Aber ein paar wirksame Mittel, und seien es zwei oder drei, | |
würden ja womöglich schon helfen im Angesicht der kommenden Wintermonate. | |
Da ist zunächst die [1][Tablette mit dem – wie üblich unaussprechlichen – | |
Namen Molnupiravir]. Es handelt sich um ein Mittel, das grob gesagt die | |
Vermehrung des Virus sabotiert und damit zur Gruppe der antiviralen | |
Therapeutika gehört, also zu jenen Stoffen, die direkt am Erreger ansetzen. | |
Die bislang unveröffentlichten Daten aus einer großen Phase-3-Studie hatten | |
Anfang Oktober Aufsehen erregt, unter anderem, weil die Studie wegen der | |
offenkundigen Wirksamkeit des Mittels vorzeitig abgebrochen wurde. | |
Molnupiravir verhindert demnach die Hälfte aller Hospitalisierungen und | |
damit auch einen Teil der Todesfälle. Das ist mehr als jede andere | |
Corona-Arznei bislang geschafft hat. | |
## Vorteil Tablette | |
„Molnupiravir kann einen Unterschied machen“, sagt der Molekularbiologe | |
Patrick Cramer vom Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in | |
Göttingen. Cramer ist Experte für eines der Schlüsseleiweiße in der | |
Vervielfältigung genetischer Informationen, genannt RNA-Polymerase. Auch | |
Viren wie Sars-CoV-2 besitzen ein solches Enzym, es kopiert die | |
Erbinformation des Erregers für die nächste Virengeneration. Molnupiravir | |
wird während des Kopiervorgangs als falscher Baustein in die neue RNA | |
eingebaut und produziert Fehler. So wird verhindert, dass vermehrungsfähige | |
Viren entstehen. Ein großer Vorteil der neuen Tablette: Es ist eine | |
Tablette. Orale Medikamente sind wesentlich leichter anzuwenden als | |
Infusionen oder Spritzen. | |
Doch natürlich gibt es auch ein paar Haken. Einer ist, dass Molnupiravir, | |
wie viele der jetzt beforschten Medikamente, nicht gegen Sars-CoV-2 | |
entwickelt wurde und deshalb womöglich weniger gezielt wirkt, als es eigens | |
für das Pandemievirus entwickelte Arzneien könnten. In diesem Fall hatte | |
Hersteller Merck den Wirkstoff gegen die Grippe entwickelt. | |
Selbiges gilt für Favipiravir, das vor mehr als 20 Jahren von einer | |
Fujifilm-Tochterfirma in Japan auf den Markt gebracht wurde. Favipiravir | |
kam ab 2014 auch gegen Ebola zum Einsatz, in der gleichen Epidemie, die | |
Remdesivir hervorbrachte. Remdesivir von Gilead wiederum galt lange als | |
große Hoffnung gegen Covid, allerdings ist inzwischen gezeigt, dass es die | |
Sterblichkeit nicht senkt. Wie Favipiravir und Molnupiravir wirkt es an der | |
RNA-Polymerase von Sars-CoV-2. PF-07321332 von Pfizer, einer der wenigen | |
wirklich neuen Wirkstoffe, zielt auf ein anderes Enzym des Virus, die | |
Tablette wird derzeit in Studien erprobt. | |
„Entscheidend ist, dass die Polymerasehemmer und das Pfizermedikament nur | |
helfen können, wenn sie frühzeitig im Infektionsverlauf eingesetzt werden“, | |
sagt Ralf Bartenschlager von der Universität Heidelberg. Im späteren | |
Infektionsstadium sei nur noch wenig Virus da, das Medikament laufe ins | |
Leere. Der Präsident der Gesellschaft für Virologie sieht an dieser Stelle | |
auch ein zentrales Problem der Wirksamkeitsstudien. „Wenn sie diese | |
Wirkstoffe an bereits schwer Erkrankten erproben, wird man kaum einen | |
Nutzen erkennen“, sagt Bartenschlager. Besser sei es, die Arzneien in den | |
ersten Tagen nach der Ansteckung zu testen, an Patienten zudem, die | |
zusätzliche Risikofaktoren mitbringen. Für sie könnten früh verabreichte | |
Wirkstoffe schwere Verläufe verhindern. | |
## Ungenutzt liegengeblieben | |
Ähnliches gilt für die monoklonalen Antikörper, die Spahn im Januar für | |
teures Geld eingekauft hat. In den Augen von Patrick Cramer stellen sie | |
tatsächlich einen der wenigen echten Fortschritte in der aktuellen | |
Medikamentenentwicklung dar, zumal sich die Abwehreiweße schnell verändern | |
und neu anpassen lassen. „Die Entwicklung neuer kleiner Moleküle dagegen | |
dauert 15 Jahre und ist extrem mühselig“, sagt Cramer. Doch die Antikörper, | |
von denen mittlerweile zahlreiche wirksame existieren, gibt es nicht als | |
Tablette. Sie müssen kurz nach Beginn der Infektion infundiert, also über | |
Stunden in die Blutbahn verabreicht werden. In der hausärztlichen | |
Versorgung fehle dafür oft die Infrastruktur, sagt Cramer. Die von der | |
Bundesregierung gekauften Antikörper sind deshalb wohl meist ungenutzt | |
liegengeblieben. | |
Einen Hoffnungsschimmer aber gibt es doch. Er heißt AZD7442, ist eine | |
Kombination zweier monoklonaler Antikörper und wird nicht infundiert, | |
sondern in den Muskel gespritzt. Dort bildet die Arznei von AstraZeneca | |
eine Art Depot. Ersten Studienergebnissen zufolge schützt AZD7442 | |
Infizierte mit hohem Risiko gut vor einem schweren Verlauf, wenn es | |
frühzeitig gegeben wird. Und es könnte sich auch als Prophylaxe eignen, | |
denn die Antikörper verbleiben über Monate im Körper. | |
„Für Ältere und Vorerkrankte, die trotz drei- oder viermaliger Impfung | |
keinen guten Schutz aufbauen, könnte AZD7442 ein Segen sein“, sagt Clemens | |
Wendtner von der München Klinik Schwabing. Der Infektiologe sieht aber | |
wiederum auch einen Wermutstropfen: Die USA hätten bereits reichlich | |
AZD7442 reserviert. Auch Frankreich soll bereits einen Zuschlag für die | |
Arznei haben, weil Teile der Studien dort stattfanden. Deutschland dagegen | |
hat Wendtner zufolge noch keine Option auf das Mittel. „Wir werden dieses | |
Antikörperpräparat vermutlich erst 2022 bekommen“, sagt Wendtner. Zu spät, | |
um die unfreiwillig Ungeschützen in der nun beginnenden Welle gegen das | |
Virus zu wappnen. | |
[2][Mit den steigenden Infektionszahlen wird es also wieder mehr schwere | |
Verläufe geben]. Ernst erkrankte Covidpatienten leiden jedoch weniger unter | |
einem sich vermehrenden Virus, sondern mehr unter der eskalierenden Antwort | |
ihres eigenen Immunsystems auf die schon nachlassende Infektion. Die | |
Intensivmedizin ist mithin eine andere Therapiewelt, hier wird nicht mehr | |
mit dem Virus gekämpft, sondern mit dem menschlichen Körper. Noch fast zwei | |
Jahre nach Beginn der Pandemie ist es ein ernüchternder Kampf, denn | |
wirksame Medikamente fehlen hier fast vollständig. | |
## Kein Gamechanger in Sicht | |
„Im Großen und Ganzen stehen uns derzeit zweieinhalb Wirkstoffe zur | |
Verfügung“, sagt Stefan Kluge vom Universitätsklinikum Eppendorf. | |
Entsprechend der aktuellen Leitlinie für stationäre Covid-19-Behandlungen | |
setzt der Intensivmediziner wie alle Kollegen entzündungshemmende Mittel in | |
der Therapie schwer Erkrankter ein. In erster Linie ist das Dexamethason, | |
ein klassisches Kortisonpräparat. Hinzu kommt je nach Verlauf ein | |
Rheumamittel. Neben den Blutverdünnern, die Thrombosen verhindern sollen, | |
ist die Medikation damit im Grunde schon ausgeschöpft. „Wir können die | |
Sterblichkeit etwas senken“, sagt Kluge. „Aber einen Gamechanger haben wir | |
nicht. Ich erwarte auch nicht, dass er noch kommt“. | |
Unterdessen erfüllt sich eine Prognose von Clemens Wendtner. Er hatte im | |
September vor einem erneuten starken Anstieg der Infektionszahlen gewarnt – | |
und davor, dass es dann auch wieder mehr schwere Verläufe und | |
Intensivpatienten gebe. „Ich wünschte, ich hätte unrecht gehabt“, sagt der | |
Infektiologe. Die Klinik im zentralen Stadtteil Schwabing betreue | |
inzwischen wieder 42 Covidpatienten, Ein Drittel davon liege auf der | |
Intensivstation, fast ausschließlich Ungeimpfte. | |
Noch sei die Lage unter Kontrolle. Aber einer neuen Belastung werde man | |
nicht mehr so gut gewachsen sein wie noch im vergangenen Jahr. „Wir haben | |
20 Prozent Kündigungen im Bereich der Intensivpflege“, sagt Wendtner. Auch | |
die Zahl der Intensivbetten mit Beatmungsgeräten in Deutschland sei um ein | |
Viertel zurückgegangen. | |
Niemand weiß, ob nicht doch noch ein Ruck durch die Menge der | |
Unentschlossenen geht, auf dass die Impfquote bis Weihnachten erheblich | |
steigt – was sowohl Wendtner als auch Bartenschlager, Cramer und Kluge als | |
einzige echte Option sehen, derzeit, um Schlimmeres zu verhindern. Nach so | |
einem Ruck sieht es aber nicht aus. Wie meinte Jens Spahn noch, im Januar | |
dieses Jahres? „Wir hatten alle zusammen das trügerische Gefühl, dass wir | |
das Virus gut im Griff hätten“, sagte der Minister damals. „Die Wucht, mit | |
der Corona zurückkommen könnte, ahnten wir, wollten es aber in großer | |
Mehrheit so nicht wahrhaben.“ | |
31 Oct 2021 | |
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## AUTOREN | |
Kathrin Zinkant | |
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