# taz.de -- Entschuldigungen sind politisch: Die Vermessenheit der Welt | |
> Entschuldigungen haben in Deutschland oft den Charakter von Ausreden. | |
> Dabei sollten sie dazu dienen, Schuld einzugestehen und daraus zu lernen. | |
Bild: Demonstration gegen die Kolonialgeschichte und die Aneignung afrikanische… | |
Ich hatte mal eine Lehrerin namens Frau E. Sie kannte sich gut mit | |
Entschuldigungen aus, weil sie auch Sport unterrichtete. Einmal stellte sie | |
sich vor die Klasse und erklärte, dass wir uns faktisch nicht selbst | |
entschuldigen könnten, auch wenn wir volljährig seien. | |
Im Grunde müsse man nämlich [1][um Entschuldigung bitten], das habe eine | |
Entschuldigung im Wesentlichen an sich. Damals verdrehten wir über Frau E. | |
die Augen. Heute gehört ihr Hinweis zum Wichtigsten, das ich je gelernt | |
habe. | |
Es ist lächerlich, wie in Deutschland mit Entschuldigungen umgegangen wird. | |
Das beginnt mit dem Unvermögen vieler, sie überhaupt in Erwägung zu ziehen | |
und reicht bis zum Irrglauben, eine Entschuldigung sei das gleiche wie eine | |
Konsequenz. Dabei sind ehrliche Entschuldigungen von Herzen toll – sie | |
mögen nicht die Lösung sein, aber können etwas bedeuten, auch politisch. | |
Ein Bundeskanzler kann [2][in Warschau auf die Knie fallen]. Eine | |
Ministerin kann nach einem rassistischen Attentat Angehörige umarmen. Das | |
kann etwas bedeuten. Aber Gesten der Entschuldigung sind nicht Medizin, | |
sondern Versprechen. Sie sind nicht die Befreiung von Schuld – die | |
Ent-schuld-igung – sondern Anerkennung von Verantwortung und Zusage von | |
Konsequenzen. Ob sie etwas wert sind, zeigt sich nicht bei der Performance, | |
sondern danach. | |
## Leidtun reicht oft nicht aus | |
In Deutschland entschuldigt man sich oft auf unerträgliche Weise für | |
rassistische Sprache und Rassismus. Unerträglich, weil es sich häufig um | |
Ausreden statt ehrlicher Entschuldigungen handelt. Unerträglich, weil | |
selbst eine echte Entschuldigung oft als Ende, nicht als Anfang einer | |
Debatte verstanden wird. | |
Wenn jemand ruft „Es tut mir leid!“ und viele antworten „Stark, danke!“, | |
will ich zurückrufen, dass das nicht der Punkt ist. Dass wir längst wissen, | |
dass der Anstand einzelner nicht gleich zum Anstand des Systems führt. Ich | |
bin nicht wütend über jemanden, der mal einen Fehler macht. Ich bin wütend | |
über die gewollte Wiederholung [3][struktureller Hässlichkeiten], die ohne | |
Veränderung bleiben. Über das falsche Framing, das niemanden voran-, aber | |
alle auseinanderbringt. | |
Die Vermessung der Welt war stets auch Vermessenheit der Leute mit den | |
Maßbändern. Die Vermessenheit derer, die jahrhundertelang kartierten und | |
kategorisierten. Die sich selbst „Entdecker“ nennen, aber nicht erlauben, | |
dass man sie Verbrecher ruft. Die weiter jedes Wort in ihre Münder stopfen | |
– nicht, weil es wertvoll ist, sondern weil sie glauben, es gehöre ihnen. | |
Es ist nicht überraschend, dass jene Vermessungsfetischist:innen es | |
nicht ertragen, nach anderen Maßstäben als den selbst entworfenen beurteilt | |
zu werden. Nicht in einem Land, das seine historischen Verbrechen nicht | |
hinreichend aufgearbeitet hat, und vor den gegenwärtigen mit einem „sorry“ | |
Augen, Ohren und Herzen verschließt. Alles zu. Bloß die Münder bleiben | |
offen und sagen weiter Unsägliches. | |
3 Feb 2021 | |
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## AUTOREN | |
Lin Hierse | |
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