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# taz.de -- Elfriede Jelinek in München aufgeführt: Die Orgie als Gebot
> Elfriede Jelinek hat den Münchner Kammerspielen ein schickes Stück über
> Mode geschenkt. Konsumkritiker dürften enttäuscht sein.
Bild: Sandra Hüller nimmt als Jelinek-Double ein Bühnen-Bad.
Als Geburtstagsgeschenk kommt gut, was persönlich oder zumindest witzig ist
und dem Jubilar schmeichelt. Ein Geschenk von Elfriede Jelinek bekommt
nicht jeder. Und die Tatsache, dass sie für den 100. Geburtstag der
Münchner Kammerspiele eine Ausnahme macht, erfüllt eigentlich schon alle
obengenannten Kriterien. Doch die Literaturnobelpreisträgerin hat ihr
Präsent noch zusätzlich aufpoliert. So gibt es die 129-seitige Sprachfläche
„Die Straße. Die Stadt. Der Überfall.“ weder vor noch nach der Uraufführ…
zu lesen.
Sie mäandert auf Wunsch des Kammerspiel-Intendanten Johan Simons durch die
exquisiten Welten der Münchner Maximilianstraße und der Mode und ist zudem
gespickt mit intimem Wissen der Autorin über sich selbst: Jelinek als
Schwellenangst-Opfer vor einem schillernden Schaufenster; als wohl einzige
Staatsfeindin mit echter Chanel-Jacke – und immer wieder als eine
„unverstört und bar aller Vernunft“ Dahineilende, deren Mission es ist,
sich „den schönsten Frauen dieser Welt anzuverwandeln“.
Die Vergeblichkeit dieses Strebens, die den Modezirkus gemeinsam mit der
Verdrängung dieser Vergeblichkeit am Laufen hält, ist ein Hauptthema des
Abends. Nichts Neues und wenig Tiefe hat er zu bieten, dafür aber eine
dieser Jelinek-Suaden, die sich jedem Thema anschmiegen und es wie edles
Kaschmir streicheln. Weshalb enttäuscht wird, wer knallharte Konsumkritik
erwartet hat. Nein, die österreichische Exzentrikerin steckt ja selbst viel
zu tief in der Prada-Gucci-Versace-Welt, die entgegen dem Klischee auch für
die meisten Münchner ein Mysterium ist. Und die Kammerspiele, die auf die
Maximilianstraße hinausschauen, gehören auch dazu. Deshalb streicheln sie
zurück.
Schwer zu sagen, was Johan Simons alles weggelassen hat vom Ursprungspaket,
das selbst der Dramaturg „ein Monstrum“ nennt. Doch es ist zu hören, dass
es zu wenig war. Und leicht zu sehen, dass sich Autorin und Regisseur an
jenem Punkt getroffen haben, wo ihre Kinderseelen wohnen: Zerstoßenes Eis
bedeckt die Bühne im Schauspielhaus, an der auf zwei Seiten Zuschauer
sitzen. Ein seltsamer Laufsteg, der elegante Auftritte desavouiert.
Erst stakst Stephan Bissmeier in einer kurzen Pelzjacke über nackten Beinen
darüber, dann Hans Kremer in einer Art Unterhose, die demonstriert, dass
sogenannte Shapewear auch am schlanken Körper irgendwo wulstartige
Fluchtbewegungen auslöst. Und dann spricht Bissmeier fast feierlich die
ersten Worte: „Ich habe gehört, es gibt jetzt eine Satzung im Gesetz, dass
man Orgien feiern muss.“
## Mosi- noch einmal in die Gosse geschwemmt
Man muss die Balance bewundern, die Simons zu Beginn seiner Inszenierung
hält: Die Orgie als Gebot, fünf Männer in Frauenkleidern – und dann dieses
bedächtige, fast würdevolle Sprechen. Der vergeistigte Blick Kremers,
während seine Hände sich ängstlich an seine Luis-Vuitton-Tasche klammern.
Und das Jungmännerduo in kurzen Kleidchen: Wie eine Kreuzung aus Brad Pitt
und den Kessler-Zwillingen, die in München tatsächlich noch LEBEN. Und
schließlich, als Krönung, die wunderbare Sandra Hüller, die sich, damenhaft
und durchgeknallt zugleich, in Jelineks kalauerverliebte Wortkaskaden
hineinwühlt, um auf dem Höhepunkt der Hysterie einfach fröhlich „Ciao!“ …
sagen. Die macht’s richtig!
Über weite Strecken des Abends ist Hüller als Jelinek-Double mit den
Implikationen eines Rock-Kaufs beschäftigt. Das ist komisch und sehr nah
dran am exquisiten Maximilianstraßen-Publikum. Dann aber geht es irgendwie
verworren um den „Überfall“ des Münchner Finanzamts auf das Steuergewissen
der Autorin.
Und mit dem gepflegteren Teil des Abends ist es vorbei. Denn nun kommt
Benny Claessens, der lange mit den Live-Musikern um den Weilheimer
Alleskönner Micha Acher (The Notwist, Tied & Tickled Trio) in einer Vitrine
saß und schräg-traurige Großstadtlieder sang, als Rudolph Moshammer auf die
Bühne. Dass der schrille Modezar, der für einige Idol und für die meisten
eine Witzfigur war, den Münchner Edelboulevard mit in den Tod genommen
haben soll, ist schon eine kühne Behauptung. Warum aber alle Details des
Mordes an „Mosi“ noch einmal in die Gosse schwemmen, zu der „die Straße�…
hier plötzlich geworden ist? Seine Liebe zu den Strichjungen, seiner Mutter
und seinem Hündchen Daisy.
Das Finale ist eine quengelige, nicht enden wollende Claessens-Show. Dann
ist das Geburtstagsgeschenk endlich vollständig ausgepackt. Und die
Maximilianstraße liegt trotz gegenteiliger Bekundungen noch immer da. In
all ihrer Banalität, aber mindestens semilebendig im ersten Schnee des
Herbstes.
30 Oct 2012
## AUTOREN
Sabine Leucht
## TAGS
München
Kammerspiele München
Münchner Kammerspiele
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