# taz.de -- EU-Flüchtlingspolitik in Tunesien: Fortlaufende Grenzverschiebung | |
> Über verschiedene Verträge rüsten Deutschland und die EU Tunesiens | |
> Grenzschützer aus. Es geht darum, Flüchtende von Europa fernzuhalten. | |
Bild: Wird auch von der EU ausgerüstet: Tunesiens Küchstenwache gegen Flücht… | |
TUNIS taz | Trotz Coronakrise wird die [1][EU-Grenzauslagerungspolitik] | |
derzeit weiter massiv vorangetrieben. Im Rampenlicht steht dabei zunehmend | |
das kleine [2][Tunesien], stechen von hier aus doch schon seit 2018 | |
verstärkt Menschen irregulär in Richtung Italien in See. Seit Jahresbeginn | |
und vor allem seit Ende des Corona-Lockdowns hat sich diese Dynamik noch | |
weiter verschärft. Auch deshalb fließen immer mehr Fördergelder aus Europa | |
in sogenannte [3][Grenzschutzprojekte], mit denen Tunesiens Außengrenzen | |
schnellstmöglich hermetisch abgeriegelt werden sollen. Eine Schlüsselrolle | |
spielt dabei eine Wiener Organisation, in der neuerdings auch die | |
Bundesregierung kräftig mitmischt. | |
Erst im Mai schloss sich Deutschland offiziell als 18. Mitgliedstaat dem | |
International Centre for Migration Policy Development (ICMPD) an und | |
genießt seitdem Stimmrechte in der politischen Steuerungsgruppe der 1993 | |
gegründeten Organisation. Im Juni wurde das ICMPD mit einem neuen | |
millionenschweren Grenzschutzprojekt in Tunesien beauftragt und fungiert | |
dabei als Koordinator zwischen geldgebenden, durchführenden und lokalen | |
Partnerbehörden. | |
Im Rahmen des Projekts sollen österreichische und dänische Polizist*innen | |
ab 2022 tunesische Grenzbeamt*innen ausbilden. In der Provinz Tozeur in | |
Zentraltunesien nahe der algerischen Grenze wird eigens dafür ein | |
Trainingscamp errichtet. | |
Fast 1 Million Euro Fördergelder kommen aus Österreich, 3,4 Millionen aus | |
Dänemark und 3,9 Millionen aus Deutschland. „Auch die tunesische Grenze ist | |
eine österreichische Grenze, wenn es darum geht, irreguläre, illegale | |
Migration zu verhindern“, sagte Österreichs Innenminister Karl Nehammer | |
(ÖVP) auf einer Pressekonferenz in Wien Ende Juni, bei der das Vorhaben | |
erstmals öffentlich vorgestellt wurde. | |
Das ICMPD baut damit seine Rolle in Sachen EU-Grenzauslagerung in Tunesien | |
abermals aus. Bis 2015 lag der Arbeitsschwerpunkt der ursprünglich als | |
zivile Denkfabrik ins Leben gerufenen Organisation in Osteuropa und auf dem | |
Balkan, verlagerte sich seither aber nach Nordafrika. Inzwischen ist das | |
seit 2016 von Österreichs Ex-Vizekanzler Michael Spindelegger (ÖVP) | |
geführte Institut eine der wichtigsten Durchführungsorganisationen von | |
EU-Grenzschutzprojekten in Libyen, Tunesien und Marokko. | |
Ein genauerer Blick auf die ICMPD-Aktivitäten in der Region zeigt dabei: | |
Eine zivile Denkfabrik, die Studien veröffentlicht, | |
Beratungsdienstleistungen anbietet oder zwischenstaatliche Dialogforen | |
organisiert und damit die EU-Grenzauslagerungspolitik flankiert, ist die | |
Organisation längst nicht mehr. | |
Heute setzt das ICMPD Grenzkontrollvorhaben unmittelbar um, organisiert die | |
Materialbeschaffung für die Aufrüstung von Grenzen und ist am Entwerfen der | |
Curricula für Ausbildungsprogramme und an der Entwicklung von | |
Überwachungstechnologie beteiligt. | |
Gemeinsam mit Italiens Innenministerium ist das ICMPD mit der Umsetzung des | |
aus Mitteln des EU-Treuhandfonds für Afrika finanzierten | |
Grenzkontrollprogramms BMP beauftragt. 70 Prozent der Projektgelder (35 | |
Millionen Euro für Marokko, 20 Millionen für Tunesien) fließen allein in | |
Materialkäufe. | |
## Deutschland und Italien rüsten Tunesiens Seepolizei auf | |
Nachdem 2019 Fingerabdruckscanner, Hunderte Polizeifahrzeuge und | |
Funkausrüstung zugunsten Marokkos angeschafft wurden, veröffentlichte das | |
ICMPD im Juni die ersten Ausschreibungen für die Tunesien-Komponente des | |
BMP. Auf der Einkaufsliste finden sich ferngesteuerte Fahrzeuge, Sonar- und | |
Radargeräte und Wärmebildkameras für die Nationalgarde. Diese | |
kontrolliert nicht nur weite Teile der Landgrenzen zu Algerien und Libyen, | |
sondern auch Tunesiens Seegrenzen. Ihr untersteht die Küstenwache, die | |
Flüchtende am Überqueren des Mittelmeeres hindern soll. | |
Die Küstenwache wird im Rahmen des BMP zudem mit einem | |
Meeresüberwachungssystem (ISMariS) ausgestattet, mit dem Bewegungen von | |
Booten überwacht werden sollen. Zusätzlich zu derlei aus EU-Mitteln | |
finanzierten Projekten rüsten Deutschland und Italien Tunesiens Seepolizei | |
auch im Rahmen bilateraler Vereinbarungen auf. | |
Während diese von Italien schon seit Jahren mit Booten versorgt wird, | |
belieferte die Bundesregierung die Behörde Ende 2019 mit einem Schwimmpier, | |
einem Kran und weiterer Ausrüstung für eine Bootswerkstatt in der | |
Hafenstadt Sfax – einer der wichtigsten [4][Abfahrtsregionen] für | |
Flüchtende im Land. | |
Was wie ein unübersichtlicher Flickenteppich an bilateralen und | |
EU-finanzierten Grenzkontrollprojekten anmutet, ist derweil vielmehr der | |
Versuch der EU, Tunesiens Außengrenzen systematisch abzuriegeln. | |
Deutschlands Beitritt zum ICMPD dürfte dessen Rolle als zentrale | |
Koordinierungsstelle für derlei Projekte zudem weiter ausbauen und den | |
Einfluss der Organisation auf Europas Grenzauslagerungspolitik zusätzlich | |
erweitern. | |
23 Jul 2020 | |
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## AUTOREN | |
Sofian Philip Naceur | |
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