# taz.de -- Dystopischer Roman über Österreich: Nach der totalitären Wende | |
> Wer sich gerade über Österreich aufregt, möge diesen Krimi lesen: | |
> Franzobel blickt in „Rechtswalzer“ ins totalitäre Wien des Jahres 2024. | |
Bild: Das konnte Franzobel noch nicht ahnen: Österreichs Kanzler Kurz in der S… | |
Man schreibt das Jahr 2024. In Österreich ist die türkis-blaue Koalition | |
gescheitert. Es regiert seit einigen Monaten eine neue Bewegung namens | |
LIMES, deren radikaler Anti-Ausländer-Kurs und Diskurs die Phantasien von | |
Viktor Orbán und Alexander Gauland noch übertrifft. Mit Slogans wie „Wir | |
sind das Volk“, „Wir sind die Zukunft“ und „Die Veränderung beginnt“… | |
die allein herrschende neue Regierungspartei die Bevölkerung auf ihre Seite | |
gebracht. In Anlehnung an Orwells düstere Dystopie 1984 werden für alle | |
Zumutungen wohlklingende Euphemismen erfunden. Das Innenministerium heißt | |
jetzt Ministerium für Glück, und das Finanzministerium Ministerium für | |
Wohlstand. | |
Unter einem Regierungschef, der sich „Meister“ nennt und frappante | |
Ähnlichkeit mit aktuell in Österreich regierenden Politikern erkennen | |
lässt, wird der Umbau in rasendem Tempo vollzogen. Moscheen werden | |
geschleift, Minarette gesprengt, integrierte Zuwanderer deportiert, | |
kritische Intellektuelle verschwinden in Lagern, Verlage, „die | |
staatsfeindliches Gedankengut verbreiteten“, werden geschlossen. An den | |
Theatern werden nur mehr patriotische Stücke aufgeführt, der letzte | |
kritische TV-Moderator mittels Kinderpornografie auf seinem Laptop aus dem | |
Verkehr gezogen. Und die Bevölkerung spielt dankbar mit. Schon tauchen an | |
ersten Geschäften Schilder auf: „Moslems werden nicht bedient“. | |
Kommissar Falt Groschen, ein unpolitischer Mensch, der anfangs glaubt, | |
diese Politik sei eine vorübergehende Modeerscheinung, die schon bald an | |
ihre Grenzen stoßen werde, erkennt erst nach und nach, dass eine totalitäre | |
Wende vollzogen wird. Während der Mord an einem moldauischen Witwentröster | |
ihn in den Sumpf einer korrupten dörflichen Schickeria an der tschechischen | |
Grenze führt, wird der lebensfrohe Malte Dinger, der ein florierendes | |
Gin-Lokal betreibt, durch eine unglückliche Verkettung von Umständen aus | |
seiner bürgerlichen Existenz gerissen und landet im Gefängnis. Dass dabei | |
nicht der Zufall Regie geführt hat und die beiden Fälle miteinander | |
verknüpft sind, erschließt sich erst nach und nach. | |
## Überall sitzen Denunzianten | |
Der Schriftsteller Franzobel, der eine Vorliebe für detailreich | |
geschilderte morbide Tötungsdelikte zeigt, verspinnt seine Handlung mit dem | |
Durchmarsch der LIMES-Regierung, die überall ihre Denunzianten sitzen hat | |
und Gegner wie Indifferente zwingt, ihr zuzuarbeiten. Dem Juristen fallen | |
zwar einige Ungereimtheiten auf, doch die Darstellung des Alltags im | |
Strafvollzug dürfte nur gelinde überspitzt sein. Es fehlt nicht der aus | |
unzähligen „Tatort“-Folgen bekannte Staatsanwalt, der einen politisch | |
brisanten Fall schnell zu den Akten legen will, während der Kommissar, | |
einem Bauchgefühl folgend, weiter recherchieren und auch die gut Vernetzten | |
und Betuchten nicht aus der Verantwortung entlassen möchte. | |
Zum Showdown kommt es am Opernball, bei dem nicht weniger als fünf | |
verschiedene Gruppen dem Propagandaspektakel der Regierung eine Aktion | |
entgegensetzen wollen oder ein Verbrechen planen und mehr oder weniger | |
erfolgreich durchziehen. Der „Ball der Bälle“ wird schließlich jedes Jahr | |
live im Fernsehen übertragen. Während eitle Prominenz und Halbprominenz | |
aufmarschieren und die unzähligen Namenlosen um einen Augenblick im Fokus | |
der Kameras buhlen, finden alle Handlungsstränge zusammen. Der Fall wird | |
gelöst, doch das zugrundeliegende Problem besteht weiter. | |
Die etwas skurrile Kriminalgeschichte ist der Vorwand für die politische | |
Botschaft: die Machtergreifung totalitärer Regimes geschieht schleichend | |
und wird – zumindest anfangs – von einem großen Teil der Bevölkerung | |
begrüßt. Es bedarf nur eines geeigneten Sündenbocks, der in den Muslimen | |
leicht zu finden ist. Zitate und Pläne real existierender Politiker müssen | |
nur in entsprechenden Kontext gestellt und weiter gedacht werden, damit aus | |
rechtspopulistischen Wunschvorstellungen bedrohliche Szenarien für | |
Rechtsstaat und Demokratie werden. | |
## Groteske Details, gewagte Metaphern | |
Furchterregend und wahrscheinlich gar nicht so übertrieben ist auch die | |
Schilderung, wie ein unbescholtener Bürger – durch unglückliche Umstände, | |
Verschwörung und eigenes ungeschicktes Zutun – in die Mühlen der Justiz | |
geraten kann, aus denen es kein Entrinnen gibt. Schnell zerbrechen Ehe und | |
Familie, wenn das vermeintliche Missverständnis in lange Strafhaft mündet. | |
Franzobel garniert seine Geschichte in gewohnter Manier mit grotesken | |
Details und gewagten Metaphern. Besonders bei der Beschreibung weiblicher | |
sekundärer Geschlechtsmerkmale lässt er seiner Fantasie freien Lauf. Da | |
trägt eine ein „Dirndl-Kleid mit weitem Ausschnitt, sodass die | |
zusammengepressten Laktosespender an das Hinterteil eines Kleinwüchsigen | |
erinnerten“. Eine Polizistin hat ein „Gesäß so groß wie | |
Schleswig-Holstein“. | |
Der Roman hat nicht die Größe eines Bundeslandes, doch er ist amüsante, | |
flott geschriebene Lektüre mit düsteren Denkanstößen – die auch noch Zeit… | |
aktuell sind, in denen sich die österreichische Regierung selbst zu Fall | |
gebracht hat. | |
22 May 2019 | |
## AUTOREN | |
Ralf Leonhard | |
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