# taz.de -- Dramatischer Kursverlust der Lira: Erdoğans Spiel mit den Zinsen | |
> Der rasante Kursverlust der Lira verteuert nicht nur Importe von Kohle | |
> und Öl. Auch andere Güter können sich viele Menschen bald nicht mehr | |
> leisten. | |
Bild: Bei lebensnotwendigen Gütern dürften die Preise schon um 30 Prozent ges… | |
ISTANBUL taz | Am Dienstag titelte die türkische Tageszeitung Karar: „Der | |
Dollar löscht das Licht aus.“ Die Redaktion sprach von dunklen Tagen, die | |
im kommenden Winter bevorstehen würden. Hintergrund ist der dramatische | |
Kursverlust der türkischen Lira, der die Preise für importierte Kohle stark | |
in die Höhe getrieben hat. Denn der fossile Energieträger macht hier immer | |
noch einen hohen Anteil an der Stromproduktion aus. Viele Leute, so | |
befürchten die Autoren bei Karar, werden sich den Strom bald nicht mehr | |
leisten können. | |
Zwar steigen die Energiepreise auch in Deutschland und anderen Ländern der | |
Welt, doch durch die fast täglichen Kursverluste der Lira ist es in der | |
Türkei besonders dramatisch. Hier kommen teurer Strom und teures Gas zu den | |
ebenfalls in die Höhe schießenden Preisen für Lebensmittel und andere Güter | |
des täglichen Bedarfs. | |
Aktuell musste man im Handel mit Devisen am Mittwochmittag in Istanbul für | |
einen Euro 10,84 Lira zahlen, für einen US-Dollar 9,33 Lira. Das sind | |
Verhältnisse, die sich vor ein, zwei Jahren noch niemand auch nur | |
vorstellen konnte. | |
Lange Jahre galt als eherne Regel, dass etliche türkische Großunternehmen | |
nicht mehr in der Lage sein würden, ihre oft hohen Dollarschulden zu | |
begleichen und Pleite gingen, wenn der US-Dollar einmal über 7 Lira stiege. | |
Jetzt wird der vermutlich in wenigen Tagen 10 Lira kosten – und noch | |
gelingt es den meisten Unternehmen, ihre Kosten auf die Verbraucher | |
abzuwälzen. Das hat aber vor allem damit zu tun, dass die Pandemiepolitik | |
die Insolvenzregeln außer Kraft gesetzt hat. | |
Lange kann diese Situation aber nicht mehr andauern, denn die Lira-Schwäche | |
wird vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan bewusst provoziert. | |
Erdoğan will die Zinsen niedrig halten, damit auch kleinere Firmen Kredite | |
aufnehmen können, also ihre bereits bestehende Schuldenlast mit neuen | |
Schulden bekämpfen können – aber dabei läuft ihm die Inflation davon. | |
## Erdoğan will sinkende Leitzinsen | |
Knapp 20 Prozent beträgt die Preissteigerungsrate offiziell, viele Ökonomen | |
gehen aber davon aus, dass sie bei den lebensnotwendigen Gütern längst bei | |
weit über 30 Prozent liegt. Dennoch will Erdoğan, dass die Leitzinsen der | |
Zentralbank von 19 auf 17 Prozent gesenkt werden. | |
Gegen solche politischen Zinssenkungen haben sich etliche Zentralbanker | |
gewehrt, was dazu führte, dass sie von Erdoğan gefeuert wurden. [1][Im | |
Herbst 2019 hatte Erdoğan auf massives Drängen aus der Wirtschaft seinen | |
Schwiegersohn Berat Albayrak entlassen] und einen neuen Zentralbankchef und | |
Finanzminister eingesetzt. Die Leitzinsen wurden damals massiv erhöht und | |
die Lira damit vorübergehend stabilisiert. | |
[2][Doch schon im Frühjahr 2020 musste der neue Zentralbankchef wieder | |
gehen] und wurde durch Şahap Kavcıoğlu, einen engen Vertrauten von Erdoğan | |
ersetzt. Der nahm dann wie gewünscht Zinssenkungen vor. Weil die meisten | |
Mitglieder im Vorstand der Zentralbank sich diesem Kurs widersetzten, | |
wurden in der letzten Woche wieder drei hochrangige Zentralbanker gefeuert, | |
was den aktuellen Kursrutsch der Lira auslöste. | |
Schon längst investiert aus dem Ausland niemand mehr in die türkische | |
Währung, weil die Zentralbank ganz offensichtlich keine unabhängigen | |
Entscheidungen mehr treffen kann. Zuletzt hat sich deshalb auch | |
Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu eingeschaltet. Er traf sich mit | |
Zentralbankchef Kavcıoğlu und versicherte diesem, wenn es einen | |
Regierungswechsel gebe, würde die Unabhängigkeit der Zentralbank wieder | |
gewährleistet sein. Er rief sogar Ministerialbeamte dazu auf, sich | |
„illegalen Anweisungen“ des Präsidenten zu widersetzen, oder sie würden | |
zukünftig zur Rechenschaft gezogen. | |
20 Oct 2021 | |
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## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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