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# taz.de -- Korruption in der Türkei: Wo sind sie, die Milliarden?
> Eine gigantische Summe der Zentralbank ist verschwunden. Mit Aktionen
> macht die Opposition darauf aufmerksam. Präsident Erdogan schickt die
> Polizei.
Bild: Das Plakat bei einem Parteitreffen der CHP, rechts der Parteivorsitzende …
Istanbul taz | In einem Livestreamvideo ist Mittwochnacht ein großer
Baukran zu sehen, der zuerst mühsam an eine Hauswand manöveriert wird. Dann
klettern zwei Leute hoch, um ein großes Transparent von der Hauswand
herunterzureißen. Tausende schauen auf Facebook zu und kommentieren den
Vorgang.
Die Istanbuler Vorsitzende der sozialdemokratisch-kemalistischen
[1][Oppositionspartei CHP], Canan Kaftancıoğlu, schreibt ironisch auf
Twitter: Den Baukran kann ich ja noch verstehen, aber was machen die
Wasserwerfer im Hintergrund? Auf dem Transparent, das da mit so großem
Aufwand mitten in der Nacht von dem Haus gerissen wird, steht nur eine
Frage: „Wo sind die 128 Milliarden Dollar geblieben?“
Diese Frage elektrisiert im Moment die ganze Türkei. Es geht um 128
Milliarden Dollar der türkischen Zentralbank, die vor einem Jahr
anscheinend spurlos verschwunden sind. Wochenlang hat die CHP im Parlament
nach dem Verbleib dieser Devisenreserven der Zentralbank gefragt und nie
eine Antwort bekommen.
Dann hatte jemand in der Partei die geniale Idee, öffentlich auf großen
Transparenten nach dem Verbleib der Milliarden zu fragen: zuerst an den
Häusern der CHP-Büros in Istanbul, Ankara und anderen größeren Städten des
Landes. Später übernahmen auch zivile Initiativen oder Privatpersonen die
Aktion.
## Enormes Echo
[2][Präsident Recep Tayyip Erdoğan] reagierte auf die Aktion wie immer,
wenn er kritisiert wird: Er schickte die Polizei. Zuerst rückte unter
großem Polizeischutz ein Kran in der Millionenstadt Bursa an, um das
Transparent vom Haus zu holen. Die Bilder gingen gleich viral und erzeugten
ein enormes Echo.
Darf man nicht mal mehr eine Frage stellen?, ereiferte sich CHP-Chef Kemal
Kılıçdaroğlu. Aber die Partei begriff schnell, welches Geschenk ihr Erdoğan
mit seinem Eingreifen gemacht hatte. Als Grund nannte der Staatsanwalt in
Bursa auch noch „Beleidigung des Präsidenten“, was die CHP und die meisten
Kommentatoren in den sozialen Medien quasi als Schuldeingeständnis
werteten.
Das Verbreiten der Transparente wurden zu einer Massenaktion. In der Nacht
von Mittwoch zu Donnerstag rückte die Polizei in vierzig Provinzen aus, um
Transparente abzuhängen. CHP-Abgeordnete hängen sie aus ihren
Parlamentsbüros, Privatleute aus ihren Fenstern. Als die Polizei am
Donnerstag bei einer Anwältin in Ankara auftauchte, um deren Transparent zu
beschlagnahmen, konnte sie keinen Rechtsgrund dafür angeben und musste
wieder abziehen.
Viele Gouverneure in verschiedenen Provinzen haben die Transparente
mittlerweile als „Störung der öffentlichen Ruhe im Ramadan“ verbieten
lassen. Doch je mehr Erdoğan auf Repression setzt, desto populärer wird die
Aktion. Und immer mehr kommen Erdoğan und seine Regierung in Erklärungsnot.
## Undurchsichtige Kanäle
Denn offenbar sind die Milliarden in undurchsichtigen Kanälen versickert,
haben sich Partei und regierungsnahe Privatleute das Geld angeeignet. Da in
dem fraglichen Zeitraum, als das Geld verschwand, Erdoğans Schwiegersohn
Berat Albayrak der zuständige Finanzminister war, wertet Erdoğan die
Kampagne der CHP als Angriff auf ihn und seine Familie. Damit heizt er die
Debatte erst recht an, denn er weiß offenbar nicht, was er sagen soll.
Denn während Erdoğan behauptet, das Geld sei teilweise für die
Pandemiebekämpfung eingesetzt worden und ansonsten noch auf sicheren
Konten, behauptet sein ökonomischer Chefberater Yiğit Bulut, die
Zentralbank hätte nie 128 Milliarden Dollar besessen. Und der Sprecher der
AKP, Nurettin Canikli, sagt: „Das Geld ist in den Häusern der Menschen.“
Um klarzumachen, wie groß diese Geldsumme ist, erklärte die CHP, man hätte
damit 35 Jahre lang alle Mindestlöhne zahlen oder jedem Haushalt in der
Türkei 40.000 Lira überweisen können. Findige Köpfe haben im Internet
Schaubilder davon gepostet, was man alles damit hätte kaufen können – von
Lebensmitteln über Autos bis zum höchsten Gebäude der Welt, dem Burj
Khalifa in Dubai.
Nach langer Durststrecke ist der Opposition ein echter Coup gelungen.
CHP-Chef Kemal Kilicdaroğlu sagte am Donnerstag zu Erdogan: „Wenn Sie den
Verbleib des Geldes nicht erklären können, halten Sie Neuwahlen ab.“ Im
Moment hätte Erdogan kaum eine Chance auf eine Wiederwahl.
16 Apr 2021
## LINKS
[1] /Opposition-in-der-Tuerkei/!5623987
[2] /Kommentar-Erdogans-Weisser-Palast/!5201113
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
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