# taz.de -- Diplomatische Eskalation in der Türkei: Erdoğan will Botschafter … | |
> Der türkische Staatschef reagiert auf Diplomaten, die sich für den | |
> inhaftierten Osman Kavala einsetzen. Hintergrund dürfte die Währungskrise | |
> sein. | |
Bild: Viele Türken fragen sich, ob Erdoğan wirklich so weit gehen wird | |
ISTANBUL taz | Seit Samstagabend diskutiert die gesamte politische Türkei | |
nur noch eine Frage: Wird er es wirklich tun? In einer Rede am | |
Samstagnachmittag hatte Präsident Recep Tayyip Erdoğan auf einer | |
Großveranstaltung seiner Partei angekündigt, die Botschafter aus den USA, | |
Deutschland, Frankreich, den skandinavischen Staaten, aus Kanada und | |
Neuseeland aus der Türkei hinauswerfen zu wollen. | |
„Kümmern Sie sich darum“, rief er von der Kundgebung in Eskişehir seinem | |
Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu zu, „kümmern Sie sich darum, diese zehn | |
Botschafter so schnell wie möglich zur Persona non grata zu erklären“, also | |
zu unerwünschten Personen. Entweder diese Botschafter, darunter auch zwei | |
Frauen aus den Niederlanden und Neuseeland, und der deutsche Botschafter | |
Jürgen Schulz würden „lernen, die Türkei zu verstehen, oder sie müssen von | |
hier verschwinden“, rief er der begeisterten Menge zu. | |
Die Begeisterung seiner Fans in Eskişehir für eine solche bislang | |
beispiellose Eskalation gegenüber dem Westen wird aber offenbar selbst in | |
seiner Partei und seiner Regierung nicht überall geteilt. Schon ein Blick | |
in die Zeitungen am Sonntag zeigt, dass die regierungsnahe Presse nicht so | |
recht weiß, wie sie mit dem neuesten Vorstoß ihres Bosses umgehen soll. | |
Das wichtige Propagandablatt Sabah versteckt die Nachricht auf Seite 10, | |
während die Oppositionszeitung Cumhuriyet groß damit aufmacht, weil sie | |
davon ausgeht, dass Erdoğan sich mit einem solchen Schritt selbst „in den | |
Abgrund“ stürzen würde, wie es ein türkischer Kollege formulierte. | |
## Der Präsident schäumt | |
Wichtiger noch als die Presse ist aber die Haltung von Außenminister | |
Çavuşoğlu. Als am vergangenen Montag der Brief der zehn BotschafterInnen, | |
in dem sie in wohlgesetzten diplomatischen Worten die Freilassung des | |
bekannten Menschenrechtlers und Kulturmäzens Osman Kavala forderten, im | |
türkischen Außenministerium einging, soll Erdoğan bereits geschäumt haben. | |
Das Außenministerium musste [1][die BotschafterInnen umgehend einbestellen] | |
und ihnen mitteilen, dass ihr Verhalten „unangemessen und inakzeptabel“ | |
sei. Außenminister Çavuşoğlu war offenbar der Meinung, dass die | |
Angelegenheit damit erledigt ist, und ging auf eine lange geplante | |
Asienreise, unter anderem nach Südkorea, um dort Panzermotoren einzukaufen. | |
Erdoğan selbst befand sich zu dem Zeitpunkt auf einer viertägigen | |
Afrikareise. Auf dem Rückweg nach Ankara gab er den mitreisenden türkischen | |
Journalisten ein ausführliches Interview und machte dort bereits klar, dass | |
er die Sache mit den Botschaftern, anders als sein Außenminister, noch | |
lange nicht für erledigt hält. | |
In seiner bekannten Angriffsrhetorik sagte er an die Adresse der | |
Botschafter: „Steht es euch zu, der Türkei eine solche Lektion zu | |
erteilen?“ Der Brief sei „unanständig“. „Würden Deutschland oder die … | |
etwa Mörder und Terroristen laufen lassen, nur weil eine auswärtige Macht | |
das fordert?“ Indirekt drohte er schon am Donnerstag mit dem Rauswurf der | |
BotschafterInnen. | |
## Verrückt oder Strategisch? | |
In einschlägigen Kreisen in Ankara hieß es, das Außenministerium habe in | |
den folgenden zwei Tagen versucht, Erdoğan von einer Eskalation im Streit | |
um die Freilassung von Kavala abzubringen. Vergeblich, wie der Präsident am | |
Samstagnachmittag klarmachte. Er will offenbar den Affront. | |
Was treibt Erdoğan an, sich mit den USA, der EU und Kanada und Neuseeland | |
gleichzeitig anzulegen? Auf den Westen einzudreschen war [2][schon immer | |
ein probates Mittel] des türkischen Alleinherrschers, um nationalistische | |
und islamistische Emotionen in der Türkei anzufachen. Aber gleich gegen den | |
ganzen Westen? | |
Je größer seine Probleme, umso größer muss der Feind sein, sagt man | |
sinngemäß in der Opposition zur Erklärung von Erdoğans Verhalten. | |
Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu twitterte am Samstagabend: „Erdoğan | |
will mit der Affäre nur von der desolaten wirtschaftlichen Situation des | |
Landes ablenken.“ | |
## Abwarten und çay trinken | |
Tatsächlich war die wirtschaftliche Situation der Türkei seit Erdoğans | |
Amtsantritt nie so bedrohlich wie heute. Die türkische Lira ist im freien | |
Fall, die Lebensmittel werden jeden Tag teurer und die Arbeitslosigkeit ist | |
derzeit der einzige Indikator, der nach oben geht. [3][Viele TürkInnen sind | |
verzweifelt], weil sie nicht mehr wissen, wie sie ihre Familien ernähren | |
sollen, gerade auch unter den AnhängerInnen Erdoğans. | |
Entsprechend geht die Zustimmung zu Erdoğans Regierung steil nach unten. | |
Der hofft offenbar, mit seiner beispiellosen Attacke auf „den Westen“ das | |
Steuer noch herumreißen zu können. Also wird er es wirklich tun? | |
Außenminister Çavuşoğlu wird am Sonntagabend zurückerwartet. Er müsste die | |
Ausweisungen formal vollziehen. | |
Am Montag wird sich zeigen, ob Erdoğan es wirklich ernst meint. Auch in den | |
westlichen Hauptstädten wartet man erst einmal ab. Offiziell liegt noch | |
nichts vor, heißt es in Berlin, „wir stimmen uns eng mit den anderen | |
betroffenen Ländern ab“. Das State Department in Washington sagte, man | |
„warte auf nähere Erläuterungen“ vom türkischen Außenministerium. Mevl�… | |
Çavuşoğlu ist jetzt am Zug. | |
24 Oct 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Fall-Osman-Kavala/!5805954 | |
[2] /Erdogan-hetzt-gegen-den-Westen/!5027527 | |
[3] http://Erdoğans%20Spiel%20mit%20den%20Zinsen | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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