| # taz.de -- Digitalisierung in der Provinz: World Wide Wurst | |
| > Früher verkaufte die Fleischerei Monse ihre Waren im Laden nebenan. Heute | |
| > ist sie ein kleines, aber weltumspannendes Unternehmen. | |
| Bild: Grünkohl mögen nicht alle – aber offenbar genug für ein florierendes… | |
| Bevor wir zu Helge Monse in seine Wohnung gehen, von der er ein kleines, | |
| aber doch irgendwie weltumspannendes Online-Wurstunternehmen steuert, | |
| erinnern wir uns einmal kurz an die gute alte Zeit, in der noch alles in | |
| Ordnung war. Na ja, nicht alles, aber zumindest [1][die Fußgängerzonen in | |
| westdeutschen Innenstädten]. | |
| Besuchen wir also die Fleischerei Monse in der Mottenstraße in Oldenburg: | |
| Würste vor gefliesten Wänden, davor die Theke, die sich mehrfach gekrümmt | |
| durch das Ladengeschäft schwingt, darin Fleischwaren aller Art, Pasteten, | |
| tiefrotes Rind, Haufen aus Hack, Schmankerln vom Schwein, zwischendrin die | |
| Verkäuferinnen mit dunkelgrauen Blusen, und an der Kasse, still alles | |
| beobachtend, aufmerksam das Geld kassierend, Renate Monse mit blondem, | |
| auftoupiertem Haar. | |
| Oldenburger, so pauschal kann man das sagen, gingen zu Monse und kauften da | |
| ihre Fleischwaren, vor allem gingen sie sonnabends zu Monse und aßen dort | |
| Erbsensuppe, ausgegeben aus großen Kesseln. Monse war ein Treffpunkt, am | |
| Sonnabend um die Mittagszeit stand man dort in einem großen Pulk vor dem | |
| Laden und löffelte, und das große rote Monse-O mit dem blauen Punkt darin | |
| leuchtete über einem wie eine große, glückliche, wärmende Sonne. Manchmal | |
| spielte oben auf dem Balkon die Flower Street Jazz Band, und viel | |
| oldenburgischer oder fußgängerzoniger ging es dann auch nicht mehr. | |
| Nun wird die Leuchtreklame im Oldenburger Stadtmuseum verwahrt, weil das | |
| Ladengeschäft seit 2015 nicht mehr existiert. Heute stehen da, wo einst | |
| Wurst gemacht und Fleisch zerlegt wurde, neue Häuser mit Wohnungen, im | |
| Erdgeschoss kann man in einem Supermarkt Lebensmittel kaufen – darunter | |
| natürlich auch Wurstwaren, eingeschweißte. | |
| Aber: Es gibt Monse doch noch, als Onlineshop, und damit gehen wir zu Helge | |
| Monse in seine Wohnung am Stadtrand von Oldenburg. Der 58-Jährige sieht | |
| nicht aus wie einer, der gelernter Metzger ist, aber gut, auch einen | |
| Wurstmacher soll man nicht nach seiner Werbeagenturbrille beurteilen. Ihm | |
| ist etwas Erstaunliches gelungen: Als eingeheirateter Schwiegersohn des | |
| Ur-Monses Eberhard, dem längst verstorbenen Erfinder aller Wurstrezepte und | |
| Gründer des Oldenburger Betriebes, schaffte er es, den guten Namen mit all | |
| der Fußgängerzonenromantik zu erhalten, ja, genau daraus Kapital zu | |
| schlagen. Eine kleine Digitalisierungsgeschichte aus der Provinz. | |
| Begonnen hatte sie 2009. Du kannst doch Fleisch und Wurst nicht übers | |
| Internet verkaufen, hatte Helges Schwager Andreas Monse, ebenfalls Metzger | |
| im Betrieb, damals gesagt. Helge aber war sicher, dass es geht, und baute | |
| mithilfe eines digitalaffinen Freundes den ersten Onlineshop auf. Fünfzehn | |
| Bestellungen hatten sie anfangs – pro Woche. Ein kleiner Schwerpunkt schon | |
| damals: alles rund um Grünkohl, jenes Wintergemüse, das in und um Oldenburg | |
| herum [2][geradezu kultisch verehrt wird], begleitet von einer | |
| regionaltypischen Wurst namens Pinkel, Kochwurst, Kassler und, wem das noch | |
| nicht ausreicht, Bauchfleisch. | |
| Rückblickend bewahrte dieser erste Schritt Helge Monse davor, einige Jahre | |
| später in der Klemme zu sitzen. Seine – da bereits von ihm geschiedene, man | |
| ging im Guten auseinander – Frau Alexandra und ihr Bruder Andreas, die | |
| Kinder von Eberhard und Renate Monse, entschieden 2015, den Betrieb mit dem | |
| Ladengeschäft aufzugeben, aus gesundheitlichen Gründen. Helge stand vor dem | |
| Nichts, mit ihm weitere 80 Angestellte. Er hätte den Betrieb und den Laden | |
| übernehmen können, traute sich das allein aber nicht zu. „Aber eins war für | |
| mich klar: Diesen Onlineshop musst du irgendwie weitermachen.“ Das war sein | |
| Ding, das hatte er aufgebaut, das wollte er nicht aufgeben. | |
| Im April 2015 kamen die Handwerker und schraubten die Monse-Leuchtreklame | |
| ab – im Oktober 2015 sollte der neue virtuelle Laden stehen, weil dann die | |
| Grünkohlsaison beginnt. Ein Freund stieg mit ein, der ansonsten Leute | |
| coacht, die sich beruflich oder überhaupt mal orientieren wollen, Monses | |
| Sohn bot Hilfe an, er studierte Werbung in Hamburg; ein Satz ist Helge | |
| Monse in Erinnerung geblieben: „Papa, wir schaffen das.“ | |
| Viel schwieriger gestaltete sich die Suche nach einer Produktionsstätte. | |
| „Ich musste ja irgendwo Grünkohl kochen, ich musste Wurst machen, ich | |
| brauchte die Maschinen. Ich konnte das ja nicht hier in der Küche | |
| erledigen.“ Bei der unmittelbaren Oldenburger Konkurrenz produzieren wollte | |
| Monse nicht, also klapperte er die Fleischer der Region ab – und fand nach | |
| einigen Absagen schließlich Andreas Tonn in Wildeshausen, 40 Kilometer | |
| südlich von Oldenburg. „Helge, Tür auf, komm’ rein“, sagte Tonn sofort,… | |
| das lag eigentlich nahe, denn die Monses hatten zuvor schon bei Tonn ihr | |
| Vieh schlachten lassen. | |
| Für Monses Online-Laden produzierte Tonn nach den alten Originalrezepten, | |
| verpackte und verschickte – bis es ihm irgendwann zu viel wurde. Denn er | |
| hatte ja auch noch seinen Schlachtbetrieb und zwei eigene Läden; andauernd | |
| noch die Kundenwünsche der Monse-Nostalgiker und Neu-Monsianer, das war | |
| nicht zu schaffen. Tonn bot an, weiter zu produzieren, Monse aber sollte | |
| sich selbst um Verpackung und Versand kümmern. | |
| Das macht er seitdem; früh um vier oder halb fünf fährt er mit seinem | |
| Geschäftspartner nach Wildeshausen. Helge Monse steht also wieder morgens | |
| im Betrieb, es ist fast so wie früher. Nur hatte er damals in der | |
| Wurstküche die Hände im Teig, jetzt hat er vor allem mit dem letzten der | |
| Arbeitsschritte zu tun, die Tiere zu verkaufbarer Wurst machen: Er verpackt | |
| die vakuumierte Ware gemäß den Bestellungen in Pakete und macht sie fertig | |
| für die Spediteure. | |
| 20.000 Kunden hat Monse heute, wobei er den Firmennamen in Minuskeln | |
| schreibt, monse also, und mit Serifen, was die Sache ein wenig gediegener | |
| erscheinen lässt. Die alte Ladenlokalschrift hat er nicht berücksichtigt, | |
| die Reklame ist ja ins Museum gewandert, und Helge Monse wollte zeigen, | |
| dass er etwas Neues macht. | |
| Auch spielt Monse mit Regionalität, hier und da finden sich auf der | |
| Webseite friesische Begrifflichkeiten, und als Ende November alle | |
| Online-Händler [3][den „Black Friday“ veranstalteten], hieß die | |
| Rabattaktion bei Helge Monse „Plietsch Fridach“. Produkte wie Räucherfisch, | |
| Ostfriesentee und gleich mehrere Sorten Kornbrand runden das Angebot ab. | |
| Und die berühmte sonnabendmittägliche Erbsensuppe, die gibt es natürlich | |
| auch. | |
| Oldenburger bestellen bei ihm, dazu Diaspora-Oldenburger, aber auch welche, | |
| die gar nicht wissen, wo diese Stadt liegt. Wer etwas vom typischen | |
| deftigen Grünkohlessen gehört hat und sich auf die Suche ins Netz begibt, | |
| stößt sehr wahrscheinlich auf seinen Laden, so ist der Kundenstamm immer | |
| größer geworden. Ständig gehen Bestellungen ein, während Helge Monse am | |
| Esstisch seiner Wohnung sitzt – jetzt gerade, weil die Grünkohlsaison ihre | |
| Hochzeit hat. | |
| Was Monse noch beobachtet hat: Kunden, die heute Fleisch bestellen, kaufen | |
| bewusster ein als die Leute früher in der Mottenstraße. Die Herkunft der | |
| Tiere ist wichtig, die Haltung der Tiere, darauf achtet er, wenngleich | |
| keine seiner Waren bio-zertifiziert ist. Monses Galloway-Rinder stehen das | |
| ganze Jahr über auf der Weide, die Strohschweine auf Stroh, er verspricht | |
| artgerechtes Leben. Und wenn Helge Monse zum Bauern geht, um die nächsten | |
| Schweine auszusuchen, dann passt es irgendwie, dass da einer kommt, der | |
| aussieht wie aus einer Digitalwursterei. | |
| 18 Dec 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Felix Zimmermann | |
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