Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Digitale Afromoderne: Götteranrufung und Sinnsuche
> Nun erscheint „Ibeyi“, das Debütalbum der Zwillinge Lisa-Kaindé und Nao…
> Díaz. Sie spüren darauf ihrem verstorbenen Vater nach.
Bild: Die Schwestern Lisa-Kaindé und Naomi Díaz.
Kann die Erfindung der Aufnahmetechnik als ein Moment der Befreiung
gedeutet werden? Liest man die Studie „Phonographies: Grooves in Sonic
Afro-Modernity“ (2005) von Alexander G. Weheliye kommt man unweigerlich zu
diesem Schluss. Der Professor für African American Studies an der
Northwestern Universität in Chicago zeigte darin auf, dass Geräte wie das
Grammofon trotz der räumlichen Trennung von Musik und Musizierenden gerade
der schwarzen US-Bevölkerung die Möglichkeit bot, ihre Unterdrückung in
einem Wechselspiel der Bezüge zwischen Subjekt und Technik zu thematisieren
und auszuhebeln.
Von Louis Armstrong über Motown bis hin zur DJ-Kultur entstand so die
sonische Afromoderne – elementarer Bestandteil der westlichen Pop-Epoche,
in der sich aktuell wiederum zwei junge Pariserinnen für eine ganz andere
Subjektbeziehung auf YouTube begeben: Lisa-Kaindé und Naomi Díaz spüren
hier mittels zahlreicher Liveaufnahmen ihrem Vater nach.
Der kubanische Perkussionist Miguel „Angá“ Díaz spielte etwa Conga und
Cajón für den Buena Vista Social Club, Herbie Hancock und Ibrahim Ferrer.
Tragischerweise erlag Angá 2006 den Folgen eines Herzinfarkts, als seine
Zwillingstöchter gerade einmal elf Jahre alt waren. „The man is gone and
mama says, there’s no life without him“, singt Lisa-Kaindé nun auf „Ibey…
dem Debütalbum ihres gleichnamigen Projekts mit der hier vor allem als
Perkussionistin und Produzentin in Erscheinung tretenden Naomi.
Die kindliche Zuneigung in „Mama Says“ ist aufrichtig und reflektiert: „H…
can I tell her the way I feel? / I’m afraid she’d be hurt and sink / It
pisses me off, it drives me mad that she lets herself feel so bad.“ Das
Stück endet in der Anrufung Elegguas, einem Orisha und Hüter des Übergangs
zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Die Orishas sind die Götter der
Santería, einer in der Karibik und in Brasilien weit verbreiteten Religion,
die aus dem Glauben der Yoruba – ein Volk, dessen Angehörige während des
Kolonialismus tausendfach verschleppt wurden – herrührt.
## Die Rituale der Götter
Mit rituellen Gesängen werden sie beschworen: Ibeyi, die
Zwillingsfruchtbarkeitsgöttinnen; Oya, der Tod; Changó, Gott des Tanzes und
der Perkussion. Sie alle werden nun von den Lisa-Kaindé angesungen, die
zudem zum Auftakt des Albums deutlich hörbar zwei Kerzen entzünden: eine
für den toten Vater, eine für ihre ebenfalls verstorbene Schwester Yanira.
Auch dieses Ritual hat man der Santería entnommen.
Während Naomi schon einen Tag nach dem Tode Angás dessen Cajón zu spielen
begann, vertiefte sich gerade Lisa-Kaindé in die Religion, studierte die
Riten während der Familienbesuche auf Kuba, in Musikbibliotheken und
natürlich im Netz. Wenn sie nun die uralten Chants auf der Bühne singt,
fühlt sie sich schon mal plötzlich „wie eine 40-jährige
Baumwollpflückerin“, sagt sie.
Die Musik entfaltet ihre Schicksalhaftigkeit, befeuert von einer Vorliebe
für Nina Simone und Billie Holiday. Bevor man sich allerdings mit „Ibeyi“
vollends an die Öffentlichkeit wagte, haben sich die Schwestern zuvor
einige Yoruba um Erlaubnis gefragt – schließlich sehe man sich in erster
Linie eben noch als kubanische Französinnen.
Gemeinsam verdichten die Zwillinge nun die Geschichte der ihrer Heimat
Entrissenen mit ihrem eigenen adoleszenten Erleben von Trauer, Glauben und
Singledasein sowie einer machtvollen Aufladung der Natur, etwa im Song
„River“.
## Keine reine Folklore
Es bleibt also nicht bei reiner Folklore. Musikalisch regiert dabei die
Leerstelle. Naomi räumt der Stimme ihrer Schwester viel Platz ein, die
spröde Perkussion und die zurückgenommenen Beats lassen immer wieder
bedeutungsvolle Pausen, die der Chorgesang der beiden energisch füllt. Es
ist eine Produktion ganz im Sinne von Richard Russell, Chef des Labels XL
Recordings, der Ibeyi unter Vertrag genommen und koproduziert hat.
Schon in seinen Studioarbeiten für Bobby Womack, Gil-Scott Heron oder Damon
Albarn hatte sich Russell für diese Art von Minimal-Pop eingesetzt, der
ungemein geschmackvoll und modern erscheint, eben weil er sich so sehr von
der Übersättigung unserer Zeit ausnimmt.
Dass dabei nun zwei 20-jährige Künstlerinnen das Licht auf die komplexen
kulturellen Verstrickungen unserer globalisierten Welt werfen, während sie
gleichzeitig und ohne Anmaßung ihre ganz persönliche Erzählungen der
digitalen Sinnsuche danebenstellen, verstärkt diesen Effekt nur noch.
12 Feb 2015
## AUTOREN
Thomas Vorreyer
## TAGS
Kolonialismus
Schwerpunkt Frankreich
Kuba
Popmusik
Neues Album
## ARTIKEL ZUM THEMA
Französisch-kubanisches Musikduo Ibeyi: Schwesternschaft zelebrieren
Das Zwillingsduo Ibeyi verbindet auf „Spell 31“ Sounds aus Frankreich,
Kuba, London und Paris – und ist auf spiritueller Suche.
Neues Album von Heinz Strunk: Über Dackel und geile Fernsehköche
Der Hamburger Humorist wütet auf „Sie nannten ihn Dreirad“ mit der
Brechstange durch die Lebenshilfeliteratur. Das ist verlockend.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.