# taz.de -- Digital-Projekte der Berliner Morgenpost: „So etwas interessiert … | |
> Der „Berliner Morgenpost“ heftet ein konservatives bis provinzielles | |
> Image an. Doch ihr Interaktiv-Team erhält einen Preis nach dem anderen. | |
Bild: „Zu angeberisch“: Nannen-Preis-Gewinner Julius Tröger und Theresa Re… | |
Berlin taz | Den Metallschrank öffnet Julius Tröger erst auf Nachfrage. Er | |
holt den gläsernen Grimme-Online-Award heraus, den er mit seinem Team vor | |
wenigen Wochen gewonnen hat, legt ihn aber schnell wieder zurück: „Zu | |
angeberisch.“ In einer anderen Schublade liegt der würfelförmige | |
Henri-Nannen-Preis, den er Ende April entgegennehmen durfte. „Das | |
aufzustellen wäre uns eher unangenehm, auch wenn wir uns über diese Preise | |
natürlich sehr freuen.“ | |
Acht Auszeichnungen hat Tröger mit seinem Interaktiv-Team im ersten | |
Halbjahr bekommen, im letzten Jahr waren es 13. Wie viele es insgesamt | |
waren, kann der 33-Jährige aus dem Gedächtnis nicht sagen. Auf seiner | |
Homepage kann man nachzählen: Seit 2011 sind es 40, dazu kommen 12 | |
Nominierungen. Es läuft gut beim Interaktiv-Team der Berliner Morgenpost, | |
das Tröger leitet und das mit seinen datenjournalistischen Projekten nicht | |
nur wichtige Journalistenpreise abräumt, sondern regelmäßig für | |
User-Anstürme auf der Website sorgt. | |
Neben Zeit Online, der 2010 gegründeten Agentur Open Data City und dem | |
gemeinnützigen Recherchezentrum Correctiv gehört die Berliner Morgenpost zu | |
den populärsten Vorreitern des Datenjournalismus in Deutschland – obwohl | |
der Regionalzeitung, die 2014 aus dem Verbund des Springer-Verlags an die | |
Funke-Mediengruppe überging, oft ein konservatives bis provinzielles Image | |
anhaftet. Datenjournalismus hingegen gilt als Zukunft der journalistischen | |
Berichterstattung, die kaum zu überschauende Datenberge mit Hilfe | |
entsprechender Software analysiert, aufbereitet und interaktiv visuell | |
präsentiert, um den Usern die Möglichkeit zu geben, sich ein präzises Bild | |
von der Thematik zu verschaffen. | |
In der breiten Öffentlichkeit haben Veröffentlichungen wie die 2010 | |
aufbereiteten Geheimdokumente über den Afghanistankrieg durch die | |
Onlineredaktion des britischen Guardian oder die im April durch die | |
Süddeutsche Zeitung angestoßene Auswertung der „Panama Papers“ zu einer | |
Sensibilisierung für diese journalistische Herangehensweise an Themen | |
beigetragen. | |
## Schauen nach den Nachbarn | |
Solche investigativen Scoops sind auf [1][morgenpost.de/interaktiv] zwar | |
nicht zu finden, dafür interaktive [2][Stücke wie „M29 – Berlins Buslinie | |
der großen Unterschiede“]. Anhand der 16 Kilometer langen Busstrecke von | |
Grunewald bis Neukölln wird das „soziale Universum der Stadt“ mit Daten und | |
Statistiken zu Wahlverhalten, Migrationshintergründen, Altersstrukturen, | |
sozialer Lage, Mietsteigerungen und Einkommen der Bewohner aufbereitet. So | |
sind die Gegensätze in der Hauptstadt für die Nutzer anschaulich | |
nachvollziehbar. | |
„Der Vorteil ist, dass wir direkt vor Ort sind“, bewertet Tröger den | |
lokalen Datenjournalismus der Berliner Morgenpost. „Wir haben letztes Jahr | |
eine Geschichte zu den lautesten und leisesten Orten in Berlin gemacht. | |
Aufgrund der Daten hat unser Videospezialist eine Frau besucht, die in der | |
lautesten Gegend der Stadt wohnt. Passenderweise musste er das Interview | |
kurz abbrechen, weil ein Güterzug vorbeifuhr“, sagt Tröger und lacht. „Das | |
ist jetzt vielleicht keine Pulitzer-Preis-verdächtige | |
Investigativgeschichte, aber ich glaube, so etwas interessiert einfach | |
jeden. Wenn man hier wohnt, schaut man nach, wie es beim Nachbarn ist oder | |
dort, wo man vielleicht hinziehen will.“ | |
Zusammen mit seinem Kollegen André Pätzold setzte Tröger 2011 die ersten | |
Geschichten noch als Teil der Onlineredaktion um, heute – ergänzt um die | |
Entwickler Moritz Klack und Christopher Möller, den Designer David Wendler | |
sowie den Videojournalisten Max Boenke – bildet das Interaktiv-Team ein | |
eigenes Ressort, das ungebunden vom Tagesgeschäft agiert. | |
Auf diese Freiheiten legt auch Chefredakteur Carsten Erdmann Wert, der die | |
Förderung Trögers und seiner Arbeit früh als markenbildend erkannt hat und | |
sich für die Ressourcen zusätzlicher Entwicklerstellen über Jahre hinweg | |
eingesetzt hat: „Entscheidend für mich ist, dass sie alle gemeinsam im | |
Newsroom arbeiten und damit mittendrin im Geschehen sind. Sie sind Teil des | |
Redaktionsbetriebs, gleichzeitig aber keine Dienstleister der Redaktion. Im | |
Gegenteil: Sie denken Geschichten digital, und dann schauen wir, was wir in | |
Print daraus machen. Das kann nur funktionieren, wenn sich die Entwickler | |
als Teil der Redaktion verstehen und auch Teil des Teams sind.“ | |
Gerade durch die große Anzahl an Print-Mitbewerbern in der Hauptstadt sieht | |
Tröger die Marke Morgenpost durch ihre Interaktiv-Projekte gestärkt: „Wir | |
haben den Vorteil, dass wir Geschichten anders erzählen können. Wir | |
versuchen immer den Dreh zu der Frage zu kriegen: Was bedeutet das für | |
mich?“ | |
## Internationaler Klickhit | |
So entwickeln sich Anwendungen wie [3][der „Zugezogenen-Atlas“] oder „Die | |
Ergebnisse aller 1.709 Berliner Wahllokale zur Bundestagswahl 2013“ zu | |
User-Lieblingen, die sich viral verbreiten. „Es kommt immer gut an, wenn | |
Leute ihre Adressen eingeben und die Ergebnisse personalisieren können“, | |
sagt Tröger. Nicht immer müssen die Themen dabei unbedingt tiefgründig und | |
über Wochen recherchiert sein: Mit einer simplen Animation während der EM | |
entwickelte sich auch [4][ihr virtueller „Huh“-Support] für die isländisc… | |
Fußballnationalmannschaft zum internationalen Klickhit. | |
Wesentlich komplexer gestaltete sich dagegen die Umsetzung der aktuellen | |
Anwendung, einer Erhebung [5][von „Deutschlands grünsten Großstädten“], … | |
die das Team Satellitenbilder ausgewertet hat, um möglichst identische | |
Vergleichsmöglichkeiten gewährleisten zu können. Zur Analyse der Daten habe | |
man mit vielen Universitätsprofessoren und Promoventen zusammengearbeitet. | |
„Dabei mussten wir darauf achten, dass wir das Ganze so einfach und | |
nachvollziehbar wie möglich gestalten. Manche Experten bekamen schon | |
Bauchschmerzen, wenn es um die Verwendung des Begriffs ‚Vegetation‘ geht, | |
die würden eher von ‚Biomasse‘ reden, zum Glück gab es andere, die uns | |
bestätigt haben, dass man das schon schreiben könne. Es ist immer eine | |
Gratwanderung“, sagt Tröger. | |
Für die Auswertung der jeweils knapp ein Gigabyte großen Bilder konnte man | |
auf die Anwendung Google Earth Engine zurückgreifen, ohne die eine zügige | |
Bearbeitung der riesigen Datenmengen kaum zu leisten gewesen wäre. Der | |
Internet-Konzern hat gerade verkündet, den Datenjournalismus in Deutschland | |
mit einem Stipendienprogramm zu unterstützen, und arbeitet dabei mit 16 | |
Partnern zusammen, neben Zeit Online, DuMont, Spiegel Online und der FAZ | |
ist auch die Funke-Gruppe dabei. | |
Chefredakteur Erdmann sieht vor allem die Vorteile: „Wir haben in den | |
vergangenen Monaten mehrere Zusammenarbeiten mit Google gehabt oder | |
begonnen, das lohnt sich für uns. Eine gewisse Grundskepsis ist bei Google | |
zwar immer angebracht, im Moment ist es aber eine Partnerschaft, die | |
wirklich auch für uns interessant ist.“ | |
17 Jul 2016 | |
## LINKS | |
[1] http://www.morgenpost.de/interaktiv/ | |
[2] http://interaktiv.morgenpost.de/m29/ | |
[3] http://interaktiv.morgenpost.de/berliner-zugezogenen-atlas/ | |
[4] http://interaktiv.morgenpost.de/huh/ | |
[5] http://interaktiv.morgenpost.de/gruenste-staedte-deutschlands/ | |
## AUTOREN | |
Jens Mayer | |
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