| # taz.de -- „Die Wütenden“-Regisseur über Banlieues: „Ich wollte genau … | |
| > Der Regisseur Ladj Ly spricht über die Folgen der Unruhen von 2005 und | |
| > seinen Drang zum Drehen. Anlass ist sein Spielfilmdebüt „Die Wütenden“. | |
| Bild: Ladj Ly wollte in seinem Film lediglich Dinge zeigen, die auf Tatsachen b… | |
| Wenn Ladj Ly in seinem Film „Die Wütenden – Les Misérables“ vom Leben im | |
| Pariser Vorort Montfermeil erzählt, wo einst schon Victor Hugos „Die | |
| Elenden“ spielte und auf der Leinwand nun Polizisten und Jugendliche | |
| aufeinanderstoßen, weiß er, wovon er spricht. Der Regisseur, dessen | |
| Eltern aus Mali stammen, ist in ebenjenen Siedlungen aufgewachsen. Im Jahr | |
| 2018 gründete er dort eine kostenlose Filmschule für interessierte Kids aus | |
| den Banlieues. [1][Lys Debütfilm wurde 2019 in Cannes mit dem Preis der | |
| Jury bedacht] und ist für den Oscar nominiert. | |
| taz: Monsieur Ly, „Die Wütenden – Les Misérables“ ist Ihr erster langer | |
| Spielfilm, dessen Wurzeln zurückreichen bis in Ihre Jugend. Schon als | |
| Teenager nahmen Sie nämlich eine Kamera in die Hand und begannen Filme zu | |
| drehen, nicht wahr? | |
| Ladj Ly: Das ist richtig. Damals sah ich den Film „Hass“ von Mathieu | |
| Kassovitz im Kino, von dem ich echt umgehauen wurde. Einige meiner Kumpels, | |
| von denen ich etliche schon seit Kindertagen kannte, und ich waren davon | |
| derart inspiriert, dass wir das Kollektiv Kourtrajmé gründeten, wobei der | |
| Name ein Spiel mit dem Wort court-métrage, also Kurzfilm ist. Ich war 17 | |
| Jahre alt, als ich meine erste Kamera in der Hand hielt, und eigentlich | |
| habe ich sie seither nicht mehr weggelegt. Man könnte also durchaus sagen, | |
| dass ich den Pariser Vorort Montfermeil, in dem ich aufgewachsen bin und | |
| der nun das Setting für „Die Wütenden“ ist, schon seit 20 Jahren filme. | |
| Wussten Sie damals gleich, dass die Sache mit der Videokamera mehr ist als | |
| ein Hobby? | |
| Oh ja, das fühlte sich gleich an wie eine Berufung. Gleich in meinem ersten | |
| Kurzfilm, den ich damals schrieb und den mein Freund Kim Chapiron | |
| inszenierte, wollte ich die Lebensbedingungen in unserer Wohnsiedlung | |
| dokumentieren und anprangern. Die Dreharbeiten haben mich derart | |
| begeistert, dass ich ab dem Moment wusste, dass ich mein Ding gefunden | |
| hatte. | |
| Ihre ersten Kurzfilme waren dokumentarischer Art. Wann entstand Ihr | |
| Interesse am fiktionalen Erzählen? | |
| Das Interesse war immer schon da, auch weil ich ja nicht nur | |
| dokumentarische Kurzfilme drehte, sondern auch als Schauspieler arbeitete. | |
| Zum Beispiel in „Sheitan“, dem ersten Langfilm unseres Kollektivs. Das war | |
| unglaublich spannend, allerdings war mir auch recht schnell klar, dass mein | |
| eigentlicher Platz hinter der Kamera ist, nicht davor. Bei den | |
| Dokumentationen, auch den längeren, machte ich allerdings zusehends die | |
| Erfahrung, dass es nicht wirklich einen Markt dafür gibt. | |
| Vor allem das französische Fernsehen zeigte null Interesse, fast fühlte | |
| sich das an wie Zensur. Wenn ich wollte, dass meine Arbeit gesehen wird, | |
| musste ich was ändern – und so entstand mein fiktionaler Kurzfilm „Les | |
| Misérables“, den ich nun zu meinem Spielfilm weiterentwickelt habe. Was | |
| allerdings nicht heißt, dass ich das dokumentarische Arbeiten aufgegeben | |
| hätte. Dieser Leidenschaft folge ich auch weiterhin. | |
| War der gleichnamige Kurzfilm von Anfang an als Testballon für Größeres | |
| gedacht? Oder erkannten Sie das Spielfilmpotenzial dieser Geschichte erst | |
| im Nachhinein? | |
| Der Plan war natürlich immer ein langer Spielfilm, nur dafür die | |
| Finanzierung auf die Beine zu stellen, war schier ein Ding der | |
| Unmöglichkeit. Der Kurzfilm war deswegen tatsächlich als Mittel gedacht, | |
| allen zu zeigen, dass ich es kann. Und der Beweis ist mir eindrücklich | |
| gelungen, würde ich denken: der Film lief auf 150 Festivals, gewann 40 | |
| Preise und war für den César nominiert. | |
| Im selben Jahr war ich für meinen Dokumentarfilm „À voix haute: La force de | |
| la parole“ sogar noch für einen zweiten César nominiert. Dass ich es trotz | |
| dieser Erfolge und Sichtbarkeit kaum geschafft habe, das Geld für „Die | |
| Wütenden“ aufzutreiben, fand ich erschreckend. Am Ende hatten wir ein | |
| Budget von lächerlichen 1,4 Millionen Euro, während vergleichbare | |
| französische Spielfilme meist das Doppelte haben. | |
| Wie erklären Sie sich das? Rassismus gegenüber einer PoC hinter der Kamera? | |
| Berührungsängste mit dem Milieu der Banlieues? | |
| Sagen wir es mal so: Die französische Filmszene ist eine in sich ziemlich | |
| geschlossene Welt, in die man als Außenseiter nicht so ohne Weiteres | |
| vordringt. Und ein Außenseiter bin ich da nun einmal, nicht nur wegen | |
| meiner Hautfarbe, sondern auch weil ich an keiner der Elitefilmhochschulen | |
| studiert habe. Aber natürlich trug auch das Setting Montfermeil zu den | |
| Schwierigkeiten bei, schließlich richtet man den Blick eher ungern auf die | |
| Brennpunkte. Wir haben wirklich unglaublich hartnäckig für den Film | |
| gekämpft und sind keinen Millimeter von unserer Vision abgerückt, was | |
| sicherlich auch viele anstrengend fanden, bei denen wir anklopften. | |
| Letztlich haben wir uns ja aber durchgesetzt. | |
| Zu diesem elitären, verschlossenen Filmsystem in Frankreich gehört | |
| natürlich auch das Festival in Cannes. Wie überrascht waren Sie, dort | |
| trotzdem auf Anhieb im Wettbewerb zu landen und sogar einen Preis zu | |
| gewinnen? | |
| Thierry Frémaux, der Chef in Cannes, hat ordentlich Eier in der Hose, das | |
| kann man nicht anders sagen. Unseren Film in den Wettbewerb einzuladen, | |
| erforderte Mut. Das war keine Selbstverständlichkeit und für mich ein | |
| durchaus politischer Akt. Uns hat er damit natürlich einen riesigen Dienst | |
| erwiesen, denn so wurde unsere Geschichte und unsere Arbeit weltweit | |
| sichtbar. Der Weg, den „Die Wütenden“ seither zurückgelegt haben, wäre o… | |
| die Premiere in Cannes so sicherlich nicht möglich gewesen. | |
| Außerdem war das natürlich gerade mit Blick auf all die in der Branche, die | |
| mit dem Film nichts zu tun haben wollten, ein richtig schöner Sieg! Jetzt | |
| muss man nur hoffen, dass unser Weg Augen öffnet, und zwar in zweierlei | |
| Hinsicht: Die einen sollen sehen, dass man es eben sehr wohl schaffen kann, | |
| in die elitären Kreise vorzudringen, während die anderen hoffentlich | |
| realisieren, dass sie sich keinen Gefallen tun, alle abzuweisen, die einen | |
| anderen Hintergrund haben. | |
| Wenn die Welt der Banlieues doch mal auf der Leinwand zu sehen ist, wird es | |
| schnell klischeebeladen. Mussten selbst Sie aufpassen, in der | |
| künstlerischen Gestaltung nicht in gewisse Fallen zu tappen, oder reichte | |
| der authentische Blick, den Sie als Kind dieser Wohnsiedlungen hatten? | |
| Fast alle dieser Filme, auf die Sie anspielen, taten zwar so, als würden | |
| sie unsere Geschichten erzählen, hatten aber in Wahrheit keine Ahnung von | |
| unserem Leben und dem Alltag in den Banlieues. Diese Regisseure haben uns | |
| ihre Visionen nur übergestülpt, was dazu führte, dass man immer nur die | |
| gleichen, nicht authentischen Sachen gesehen hat. Mir ging es darum, diese | |
| Bilder zurechtzurücken, schließlich lebe ich seit 38 Jahren dort und kenne | |
| diese Welt. Ich wollte genau sein und gerecht, Tatsachen erzählen und nicht | |
| Partei ergreifen. | |
| Von den Bildern rund um den Sieg bei der Fußball-WM 2018 ganz am Anfang des | |
| Films bis zum Ende basiert alles auf Dingen, die ich oder meine Freunde | |
| erlebt haben. Über Klischees habe ich nicht nachgedacht, über Realismus und | |
| Wahrhaftigkeit dafür umso mehr. Der große Costa-Gavras hat über unseren | |
| Film gesagt, er würde alles hinwegfegen, was über dieses Thema je erzählt | |
| wurde. Genau das war meine Absicht! | |
| Selbst wer die französische Innenpolitik nicht allzu sehr verfolgt, dürfte | |
| sich noch an die großen Unruhen von 2005 erinnern. Ist die Situation und | |
| die Stimmung in den Banlieues noch vergleichbar mit damals? | |
| Die Vorfälle von damals haben uns alle geprägt und bis heute Spuren | |
| hinterlassen. Seither hat sich durchaus einiges zum Besseren entwickelt. Es | |
| gab positive städteplanerische Veränderungen, viele der vollkommen | |
| vernachlässigten Hochhäuser sind abgerissen und durch kleinere, bessere | |
| Gebäude ersetzt worden. Alles ist ansprechender geworden, das Dekor ist | |
| sozusagen hübscher. | |
| Aber die grundsätzlichen Probleme sind die gleichen geblieben. Die Jugend | |
| ist nach wie vor zu kulturfern, es mangelt an Bildungsangeboten, die | |
| Arbeitslosigkeit ist viel zu hoch. Die Distanz zwischen Paris und den | |
| Banlieues ist, in mehr als einer Hinsicht, zu groß. Von Macrons mal | |
| verkündetem Vorortplan ist nicht mehr viel übrig, obwohl es noch sehr viel | |
| zu tun gäbe. | |
| 22 Jan 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Patrick Heidmann | |
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