# taz.de -- Justice-Video "Stress" ein Hit im Netz: Die Banlieue läuft Amok | |
> Im Video zu ihrem Stück "Stress" zeigt das Elektronik-Duo Justice eine | |
> Bande marodierender Einwandererkids. Das extrem realistische Video wird | |
> kontrovers diskutiert. | |
Bild: Jugendliche Delinquenten mit Justice-Logos im Videoclip "Stress". | |
MTV überlegt noch, wie spät der Sendeplatz sein muss, auf den es gesetzt | |
werden kann. Die französischen Fernsehsender weigern sich ohnehin, es zu | |
zeigen: Zu rassistisch. Seit das [1]["Stress"-Video] des Elektronikduos | |
Justice Anfang Mai ins Netz gestellt wurde, sorgt es für Aufregung in | |
Frankreich. Auf YouTube wurde es bisher 430.000 Mal angeklickt, auf | |
DailyMotion sogar über 540.000 Mal. Im Netz wird heftig über Inhalt und | |
Form des Clips diskutiert. | |
Darin ist eine Gruppe halbwüchsiger Jungs zu sehen, einheitlich gekleidet | |
in Kapuzenshirts und mit dem Kreuz-Logo von Justice auf dem Rücken. Sie | |
rotten sich zwischen den heruntergekommenen Wohnscheiben einer Banlieue | |
zusammen. Erkennbar sind sie alle Migrantenkids. In bester | |
Clockwork-Orange-Manier ziehen sie durch ihr Viertel bis in die Pariser | |
Innenstadt, machen Straßen und U-Bahnhöfe unsicher. Mit Schlüsseln kratzen | |
sie am Lack parkender Autos, sie belästigen Frauen und prügeln willkürlich | |
auf Passanten ein. Nachdem sie eine Kneipe verwüstet haben, lassen sie sich | |
auch von der Polizei nicht mehr stoppen. Sie zerren einen Mann aus seinem | |
Citroën, fahren den Wagen mit waghalsigen Manövern über Boulevards und | |
zünden ihn schließlich mit einem Molotowcocktail an. | |
Die Ästhetik des Videos ist pseudo-dokumentarisch. Die Bilder verlieren | |
manchmal an Schärfe, die Kamera wackelt, schwenkt hektisch hin und her. Die | |
rasante Montage der Szenen von Demütigung und Zerstörung passt zum Track | |
von Justice – ein unruhiges, ausfaserndes Technostück, durchzogen von grell | |
sägenden Geräuschfetzen und flirrenden Streichorchestersounds, die Anleihen | |
bei der Filmmusik von Horror-Thrillern nehmen. | |
Justice und der Regisseur des Videos, Romain Gavras, verweigern bisher jede | |
Stellungnahme. Dabei müssen sie nicht nur von den etablierten Medien harte | |
Kritik einstecken. Von der Internetgemeinde bekommen vor allem die Musiker | |
von Justice ihr Fett weg. Mit ihren rockistischen, kickenden Beats hat das | |
Duo dem French House neues Leben eingehaucht. Und ihr Debutalbum, auf dem | |
auch "Stress" zu finden ist, war im letzten Jahr ein großer kommerzieller | |
Erfolg. Doch HipHop-Fans monieren: Zu den gezeigten Bildern laufe die | |
falsche Musik. Die beiden Mitglieder von Justice werden als Bürgersöhne | |
verspottet, die sich mit dem Clip an die Gang-Kultur der Banlieues | |
ranschmeißen und um street credibility buhlen wollten. Die französischen | |
Musikszene ist in der Tat gespalten: Im HipHop tummeln sich Blacks und | |
Beurs aus den Vorstädten, bei den Elektronikacts dominieren traditionell | |
weiße Mittelklassejungs. Das Video greift die fehlende Respektabilität von | |
Justice im Territorium von HipHop selbstironisch auf, wenn die bösen Buben | |
im geklauten Renault wütend die CD-Anlage kaputt treten, als aus den Boxen | |
kurz "D.A.N.C.E.", der bisher größte Hit des Duos, schallt. | |
Regisseur Romain Gavras ist einer, den solche Grenzziehungen nicht kümmern. | |
Er hat Constantin Costas-Gavras zum Vater, den wohl berühmtesten Vertreter | |
des politisch engagierten Kinos. Von der Wiege an mit dem Medium Film groß | |
geworden, gründete er 1995 noch als Gymnasiast zusammen mit Kim Chapiron | |
und Toumani Sangaré unter dem Namen Kourtrajmé ein lockeres Kollektiv, das | |
mittlerweile gut 130 Filmschaffende und Musiker umfasst. Aus Begeisterung | |
für die sich damals zur vollen Blüte entfaltenden HipHop-Szene Frankreichs | |
und inspiriert durch Filme wie "La Haine" von Mathieu Kassovitz, drehten | |
die Mitglieder von Kourtrajmé zunächst kurze, comichafte [2][Dokufiktionen] | |
mit wilden Verfolgungsjagden, viel Blut und provokanter Sprache. Oft ist | |
die Banlieue, Heimat von nicht wenigen der Koutrajmé-Mitglieder, Schauplatz | |
des Geschehens. Graffiti und Breakdance spielen darin eine Rolle und Rap | |
ist der Soundtrack. Quasi als Pennäler-Ausgabe von Dogma gab sich | |
Kourtrajmé zu Beginn mehrere Regeln vor, unter anderem die, dass den Filmen | |
niemals ein richtiges Drehbuch zu Grunde liegen sollte. Zunächst gab es die | |
Werke nur auf Videokassetten und im Internet zu sehen. 2002 kam dann die | |
erste DVD mit sechs Stunden Material heraus | |
Trotz Low-Budget-Produktion und fehlendem Vertrieb machte sich Kourtrajmé | |
mit seinem erfrischenden Trash schnell einen Namen, nicht zuletzt auch, | |
weil das Kollektiv durch Mathieu Kassovitz und andere bekannte Größen des | |
französischen Kinos wie Vincent Cassel Unterstützung bekamen. So | |
bezeichnete Regisseur Chris Marker Kourtrajmé als Vertreter einer neuen | |
Nouvelle Vague. Inzwischen hat Kim Chapiron seinen ersten Langspielfilm | |
veröffentlicht. Romain Gavras hat in der Musikvideosparte Fuß gefasst, wo | |
er über seine Arbeit mit zahlreichen HipHop-Acts hinaus Tuchfühlung mit der | |
Elektro-Szene aufgenommen hat. Neben Kollaborationen [3][mit DJ Mehdi und | |
Tomas Bangalter] (Daft Punk) sowie mit [4][Simian Mobile Disco] ist nun das | |
"Stress"-Video für Justice entstanden. | |
Die Tageszeitung Le Monde hält den Clip für einen reinen Marketingcoup. Das | |
Video lässt sich aber auch als Reflektion über die Produktion des Bildes | |
von den französischen Vorstädten interpretieren. Zweieinhalb Jahre nachdem | |
der Tod zweier Kinder aus Migrantenfamilien auf der Flucht vor der Polizei | |
wochenlange schwere Unruhen in den Banlieues auslöste, herrscht dort nur | |
ein brüchiger Friede. Nichts hat sich an der sozioökonomischen Misere | |
geändert. Die Satellitensiedlungen geraten weiterhin nur dann in den | |
Blickwinkel der Öffentlichkeit, wenn die Medien über die Missetaten lokaler | |
Jugendbanden berichten. Sowohl Law-and-Order-Fetischisten als auch ein | |
aufgeklärtes, linksliberales Publikum brauchen reale oder fiktionale Bilder | |
von latenter Aggression oder offen ausbrechender Gewalt, um auf einen | |
ausreichenden Level der Empörung über die Versäumnisse der Politik gebracht | |
zu werden. Filmemacher, Autoren, Journalisten und Musiker bedienen dieses | |
Bedürfnis und haben so in den vergangenen Jahren selbst mit besten | |
Absichten die Reizschwelle für die Wahrnehmung des sozialen Ausschlusses | |
der Banlieue-Bewohner immer höher getrieben. | |
Spätestens wenn der Ton-Mann im Clip kurz ins Bild kommt, um in den | |
geklauten Renault zu steigen, ist klar, dass das „Stress“-Video von Gavras | |
thematisiert, wohin die Produktion dieses Banlieue-Images führen kann: Das | |
fiktive Filmteam ist bereit, rechtliche und moralische Grenzen zu | |
überschreiten, um ihre Bilder im Kasten zu haben. Und wer weiss: Vielleicht | |
nehmen ja die gezeigten Testosteronbomben die Existenz der Kamera zum | |
Anlass, über das übliche Maß ihrer Delinquenz hinauszugehen. Der Plot einer | |
Berichterstattung über ein Verbrechen, der in die Komplizenschaft mit dem | |
Verbrecher mündet, ist natürlich keine neue Idee. In dem Film "Mann beisst | |
Hund" des Belgiers Rémy Belvaux von 1992 spürt eine Fernsehcrew einen | |
Massenmörder auf, unterliegt der Faszination seines bösen Treibens, | |
ermutigt ihn zur Steigerung seiner Grausamkeit und wirkt schließlich aktiv | |
an seinen Taten mit. Ähnlich wie bei „Mann beißt Hund“ bezahlt auch das | |
Filmteam von "Stress" einen schmerzhaften Preis für seine Überschreitung: | |
Am Ende des Clips wendet sich die Gewalt der Gang gegen den Kameramann. Er | |
wird als Hurensohn beschimpft, seine Kameralinse wird bespuckt, schließlich | |
wird er niedergeschlagen. | |
Die konsequent subjektive Kameraführung bringt das "Stress"-Video | |
logischerweise selbst in das Dilemma, das Stereotyp des delinquenten | |
jugendlichen Migranten zu reproduzieren, um überhaupt Aufmerksamkeit für | |
die mediale Missrepräsentation der Banlieue herzustellen. Da seine Macher | |
sich nicht erklären, riskieren sie aber, dass die Diskussion über ihr Video | |
an der Gewaltdebatte hängenbleibt. Im besten Falle lenkt das "Stress-Video" | |
das Interesse der Öffentlichkeit, zumal das der jüngeren Justice-Fans aus | |
den "besseren" Vierteln, verstärkt in Richtung von Gavras’ Homebase | |
Kourtrajmé. Auf der entstehen ja nicht nur durchgedrehte, spaßige Filme, | |
die mit den gängigen Klischées von arbeitslosen Eckenstehern und Gangstern | |
spielen. Kourtrajmé-Mitglied Ladj Ly, der in Clichy aufwuchs, wo die | |
Unruhen von 2005 ihren Ausgangspunkt nahmen, hat im vergangenen Jahr die | |
Dokumentation [5]["365 Jours á Clichy Montfermeil"] fertig gestellt. | |
Der Bürgerkriegshysterie, die angesichts der Eruption von Gewalt in den | |
bürgerlichen Medien herrschte, setzt der Film eine differenziertere Sicht | |
auf die Ursache und Dynamik der Ereignisse entgegen. Ein Jahr vor den | |
Unruhen begleitete und filmte Ladj Ly den Fotografen JR bei der | |
Realisierung seines Projekts [6]["28 mm – Portrait d’une Generation"]. JR | |
stellte dafür zahlreiche Jugendliche aus verschiedenen Pariser Banlieues | |
vor das Weitwinkel-Objektiv seines Fotoapparates. Die entstandenen Porträts | |
wurden als Plakate vergrößert und ungenehmigt an Mauern und Häuserwänden in | |
der Pariser Innenstadt geklebt. Ladj Lys Video zeigt zum Schluss, wie die | |
Bilder mit Druckstrahlreinigern weggespritzt werden. – ganz im Sinne des | |
damaligen Innenministers Nicolas Sarkozy. | |
12 May 2008 | |
## LINKS | |
[1] http://www.dailymotion.com/video/x58z2a_justice-stress-official-video_music | |
[2] http://www.kourtrajme.com/index2.html | |
[3] http://www.kourtrajme.com/index2.html | |
[4] http://www.youtube.com/watch?v=5mZzzZLG2pY&feature=user | |
[5] http://www.youtube.com/watch?v=JpWHMlYEwsI | |
[6] http://www.youtube.com/watch?v=0rWJo0U_Qes | |
## AUTOREN | |
Oliver Pohlisch | |
Oliver Pohlisch | |
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Spielfilm | |
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