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# taz.de -- Banlieu-Filmtrilogie von Ladj Ly: Vertreibung aus dem Hochhaus
> Regisseur Ladj Ly inszeniert mit seinem zweiten Banlieu-Film „Die
> Unerwünschten – Les Indésirables“ ein gesellschaftlich angespanntes
> Frankreich.
Bild: Vielleicht bald Klassiker? Aristote Luyindula und Haby Large in „Les In…
Mit seinem Debüt [1][„Die Wütenden – Les Misérables“ hat Ladj Ly 2019]
einen Kickstart hingelegt. Der aus Mali stammende französische Filmemacher
erzählte darin multiperspektivisch vom System der Gewalt zwischen Gangs und
Polizei mit großer (auch visueller) Wucht im Pariser Vorort Montfermeil
und mit losen Bezügen zu Victor Hugos am gleichen Ort angesiedelten
titelgebenden Roman.
Jede Sekunde des Films, der Genre mit Sozialrealismus vermählt, ist zu
spüren, dass hier jemand, der in ebenjener Banlieue aufgewachsen ist, etwas
zu sagen hat. Beim Filmfestival in Cannes gewann Ly den Jurypreis und wurde
bei den Oscars für den besten internationalen Film nominiert.
Nun folgt mit „Die Unerwünschten – Les Indésirables“ der zweite Teil ei…
geplanten Trilogie über die Pariser Banlieue. Und gleich in den
Anfangsminuten versteht es Ly, in seine Geschichte hineinzuziehen: Die
Kamera fliegt über das Viertel auf einen gewaltigen Hochhauskomplex zu und
findet in einem der hunderte Fenster Haby (Anta Diaw).
Weil die Aufzüge seit Jahren außer Betrieb sind, müssen die Männer vom
Bestattungsinstitut den Sarg mit ihrer Oma aus dem oberen Stockwerk durch
das Treppenhaus bis zum Erdgeschoss hieven – ein erinnerungswürdiger
Trauerzug.
## Enger werdendes Netz
Nach einem gemeinsam mit Giordano Gederlini geschriebenen Drehbuch spinnt
Ly auch in „Die Unerwünschten“ ein enger werdendes, multiperspektivisches
Netz. Herz des Films ist Haby. Die aus Mali stammende Frau arbeitet als
Archivarin im Rathaus und leitet eine Organisation, die bei der
Wohnungssuche und anderen Problemen hilft. Sie und viele andere sehen in
der geplanten Sanierung des Viertels eine Strategie zur Vertreibung.
Das Gesicht dieser Befürchtungen wird der Kinderarzt Pierre (Alexis
Manenti), der anstelle des Vizebürgermeisters Roger Roche (Steve Tentchieu)
zum Übergangsnachfolger des verstorbenen Bürgermeisters gewählt wird.
Pierres gute Absichten weichen einem Konfrontationskurs gegen die Menschen
aus dem Viertel, mit Polizeigewalt lässt er gegen einen geduldeten
Schrottplatz und die Jugend vorgehen. Als Habys Wohnhaus nach einem Brand
notevakuiert wird – ein Vorwand, um den Plattenbau loszuwerden –, eskaliert
die Situation.
Im popkulturellen und filmhistorischen Gedächtnis sind die migrantisch
geprägten Vorstadtsiedlungen nach der Deindustrialisierung und der
Arbeitslosigkeit ab den 1970er Jahren präsent als Schauplätze für
Gangsterballaden und Milieustudien über Klassenverhältnisse, strukturellen
Rassismus und Gewalt.
## „La Haine“ – der Genreklassiker
[2][Man denke an Mathieu Kassovitz’ Klassiker „Hass – La Haine“] oder an
Romain Gavras’ „Athena“, an dessen Drehbuch Ly mitgeschrieben hat. Céline
Sciamma und Houda Benyamina widmeten sich in „Girlhood“ und „Divines“ d…
Gangwesen aus weiblicher Sicht, und das [3][Regieduo Fanny Liatard und
Jérémy Trouilh hat zuletzt in „Gagarin“] originell eine sozialrealistische
Weltraumoper in der Banlieue erzählt.
Ly zeigt sich in „Die Unerwünschten“ als wütender Chronist des Systems
Banlieue. Er schlägt sich explizit auf die Seite der Marginalisierten und
haut mit Zorn auf die emotionale Klaviatur; die unfassbaren Szenen, als das
Haus geräumt wird und die Menschen ihr Hab und Gut aus den Fenstern werfen,
sind ein regelrechtes Armageddon.
Dass „Die Unerwünschten“ zugunsten einer fast schon aktivistischen Haltung
weniger ambivalent angelegt ist als sein Vorgänger, ist ein Stück weit
seine Schwäche, aber zugleich seine Stärke. Die kalkulierte Eskalation
macht den Film vorhersehbarer und die Figuren werden zu offensichtlichen
Stellvertreter:innen für gesellschaftspolitische Strömungen:
Haby sucht nach politischen Lösungen, ein Freund radikalisiert sich, Pierre
tut alles gegen die Menschen im Viertel und nimmt in migrationspolitischer
Doppelmoral zugleich Syrer bei sich auf. Zugleich kann man sich Lys Film,
seiner kompromisslosen Operation am offenen Herzen gegenwärtiger inhumaner
Diskurse, wie wir sie auch in Deutschland erleben, schwer entziehen.
6 Mar 2025
## LINKS
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## AUTOREN
Jens Balkenborg
## TAGS
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