# taz.de -- Die Grünen und die „Titten-Affäre“: Ein Politikum auf 140 Zei… | |
> Ein sexistischer Spruch, eine Entschuldigung. Fertig. Doch so einfach ist | |
> es nicht, das weiß der grüne Politiker Jörg Rupp heute. | |
Bild: Jörg Rupp ist ein Politiker, der die Öffentlichkeit sucht – das geht … | |
MALSCH taz | Es sind nur wenige Sekunden, die den grünen Kommunalpolitiker | |
Jörg Rupp auf die Titelseite der Bild bringen werden. 15. Februar, der | |
Abend der Wahl in Hamburg, kurz nach 18 Uhr. Rupp sitzt am Schreibtisch vor | |
dem Computer, gerade liefen die Ergebnisse im Fernsehen. Der Balken der FDP | |
blieb bei 7,4 Prozent stehen, die Freidemokraten sind wieder im Parlament. | |
Rupp ist jetzt wütend, er hackt ein paar Worte in die Tastatur: „muss man | |
sich mal vorstellen: mit Titten und Beinen anstatt Inhalten. #fassungslos | |
#fdp“ Eine Anspielung auf Hamburgs FDP-Spitzenkandidatin Katja Suding, sie | |
hatte im Wahlkampf in körperbetonten Klamotten in der Zeitschrift Gala | |
posiert. Rupp drückt auf den Sendenbutton, ab jetzt steht seine Wahlanalyse | |
für alle lesbar im Kurznachrichtendienst Twitter. FDP, Titten, fassungslos. | |
Jörg Rupp, 49 Jahre, graue Strähnen im dichten Haar, ist ein kleines Licht | |
bei den Grünen in Baden-Württemberg. Ein engagierter Parteilinker, | |
Gemeinderat in seinem Heimatort Malsch, außerdem als Basisstimme im | |
erweiterten Landesvorstand. | |
## Großes rollt auf ihn zu | |
Er bereitet nach dem Tweet alles für einen ruhigen Abend vor, brät | |
Schweinekoteletts fürs Abendessen und schaut mit seiner Frau fern, auf Arte | |
läuft „Der englische Patient“. Um halb elf klingelt Rupps Handy, sein | |
Landeschef ist dran: „Jörg, du musst dich entschuldigen.“ Rupp ahnt jetzt, | |
dass da etwas Großes auf ihn zurollt. Er entschuldigt sich noch am selben | |
Abend auf Twitter und auf seinem Blog für die Wortwahl, dann schreibt er | |
eine Mail an Suding. Sie nimmt an. | |
Damit hätte die Sache erledigt sein können. Ein unwichtiger Grüner, ein | |
saublöder Spruch, eine Entschuldigung. Fertig. Ja nun, von wegen. Als ob | |
das so einfach wäre. Titten, das geht natürlich gar nicht. Dafür wurden die | |
Grünen nicht gegründet. Ein Mitglied, das sexistisch twittert, das ist, als | |
würde der Papst in der Osterpredigt plötzlich böse Schimpfworte rappen. Das | |
ist keine Kleinigkeit, das ist eine Staatsaffäre, sowohl für die Grünen als | |
auch für ihre Gegner. Was bleibt vom Titten-Gate? | |
Jörg Rupp hat die verwaschene Jeansjacke über einen Stuhl gelegt. Er redet | |
ruhig in sanftem Badisch. „Ich bin doch kein Sexist“, sagt er. „Ich dacht… | |
ich könnte das einfach richtigstellen: Entschuldigung, das war nicht so | |
gemeint. Jedem rutscht doch mal ein Scheiß heraus.“ Rupp nimmt eine Gabel | |
vom Rindfleischsalat. In der Hausbrauerei am Malscher Bahnhof erzählt er | |
drei Stunden lang, was der Shitstorm mit ihm machte. | |
Die Pressesprecherin des Landesverbandes habe ihm damals sofort gesagt, | |
Jörg, halt jetzt einfach mal deine Klappe. „Ich habe für diese Erkenntnis | |
noch drei Tage gebraucht.“ Auf Twitter fallen User scharenweise über Rupp | |
her. Einer droht, ihm gehöre die blöde Visage poliert. Ein anderer lästert | |
über „ungepflegte und potthässliche Grüninnen“, die Rupp umgäben. | |
## Die Streber entlarven | |
Ein weiterer nennt Rupp, einen „volkswirtschaftlichen Ausfall“, der froh | |
sein könne, dass ihn die Wirtschaft mitschleppe und seine Kinder ernähre. | |
Verglichen mit den Reaktionen ist Rupps Sexismus-Tweet harmlos, | |
offensichtlich produziert Dummheit immer mehr Dummheit. | |
Am Montag, an Tag eins nach dem Tweet, werden die Medien aufmerksam. Dpa | |
verbreitet eine Meldung, diverse Newsportale bringen sie als Topstory. Sie | |
steht auf Onlineseiten der Frankfurter Allgemeinen, des Tagesspiegels, der | |
Stuttgarter Nachrichten, der Augsburger Allgemeinen, des Focus oder Stern. | |
Viele Journalisten halten die Grünen ja für moralverliebte Besserwisser, | |
endlich bietet sich eine Gelegenheit, die Streber zu entlarven. Rupps | |
Telefon klingelt den ganzen Tag. | |
Am Dienstag, an Tag zwei, druckt die Bild-Zeitung den weltbewegenden | |
Skandal auf Seite 1. „Der Dienstag war die Hölle“, erzählt Rupp. „Da ha… | |
ich mich fast nicht aus dem Haus getraut.“ Als er doch auf die Straße muss, | |
schaut er sich immer wieder um. Sein Vater, Vorstand im Gesangsverein des | |
Nachbarorts, liest ihm tags darauf die Leserbriefe wütender Bild-Leser vor, | |
ihn amüsiert das. Rupp bekommt Dutzende Mails, Hasstiraden von Fremden, | |
Wutschreiben von Parteikollegen, vorsichtige Nachfragen von Freunden. Er | |
ist jetzt der „Pöbel-Grüne“ (Bild). | |
## Wo die Freundschaft endet | |
Allein die Karriere, die diese Nichtgeschichte machte, sagt einiges über | |
die Reflexe einer stets empörungsbereiten Mediengesellschaft aus, also: | |
über die Reflexe von uns allen. Interessanter aber ist, dass es | |
gleichzeitig sehr still wird um Rupp, der sich zuvor öfter für Frauenrechte | |
eingesetzt hatte. „Kein Grüner hat sich getraut, mich öffentlich zu | |
verteidigen. Da kam nichts. Absolut nichts. Dröhnendes Schweigen.“ Rupp | |
nimmt einen Schluck Helles. „Keiner hat gesagt: Wir kennen den Jörg seit | |
Jahren, der ist kein Sexist.“ | |
Stattdessen stimmen die Parteifreunde in das Konzert ein. Landeschef Oliver | |
Hildenbrand distanziert sich mit scharfen Worten (“völlig inakzeptabel“). | |
Auf Journalistenfragen nach einem Rücktritt Rupps antwortet er kühl: „Das | |
muss Jörg Rupp selbst wissen.“ Was verklausuliert bedeutet, uns wäre es | |
recht. Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer fordert auf Facebook den | |
Rückzug. Und der Kreisvorstand Karlsruhe-Land vergleicht den Sexismus-Tweet | |
mit reaktionären, frauenfeindlichen Organisationen, „die Frauen komplett | |
verschleiern“. | |
Ein blöder Spruch ist so frauenverachtend wie der radikale Islam? Die | |
politische Korrektheit wird bei den Grünen offenbar in | |
gesundheitsgefährdenden Dosen verabreicht. Seltsam unverhältnismäßig und | |
verkrampft muten diese Reaktionen an für eine Partei, die doch vor allem | |
lässig sein will. Die Entgleisung eines Ehrenämtlers ist zum brisanten | |
Politikum geworden. | |
Auch bei einer Klausurtagung Ende Februar grillen ihn seine | |
VorstandskollegInnen. Mehrere legen ihm nahe, sich bis zur Landtagswahl | |
2016 nicht mehr auf Twitter, auf Facebook oder im Blog zu äußern. Anton | |
Hofreiter, Chef der Bundestagsfraktion, der Rupp kennt, schaut grußlos an | |
ihm vorbei, als er ihn zufällig vor einem Bundestagsgebäude in Berlin-Mitte | |
trifft. Ein angedrohtes Redeverbot und öffentliche Ächtung, so erinnert | |
sich jedenfalls Rupp. | |
Er ist in der Brauerei bei dem Thema angekommen, das ihn am meisten | |
umtreibt: Solidarität unter Grünen, oder besser, ihre Abwesenheit. „Wir | |
nennen uns ständig ‚liebe Freundinnen und Freunde‘. Ich war so doof zu | |
denken, dass Menschen mit ähnlichen Zielen alle sympathisch und solidarisch | |
sind.“ Jeder habe Angst, es könne etwas an ihm hängenbleiben, sagt Rupp. | |
„Viele sind Karrieristen, viele schauen nur auf sich.“ | |
## Bei den Guten sein | |
Ein unschuldiges Opfer ist Rupp in dieser Geschichte aber nicht. Je länger | |
man mit Grünen aus Baden-Württemberg spricht, desto mehr erscheint der | |
Umriss eines Unbelehrbaren, eines Rebellen aus Prinzip. Er liebt die | |
Provokation, genießt Aufmerksamkeit und fühlt sich meist sehr im Recht. | |
Alles, was ihn umtreibt, gießt er in Echtzeit ins Internet. Rupps | |
Textausstoß ist immens, sein Geltungsbewusstsein groß. Öffentlichkeit ist | |
seine Waffe, die sich diesmal gegen ihn richtetet. „Jörg will immer bei den | |
Guten sein“, sagt ein Grüner, der ihn gut kennt. „Das ist seine stärkste | |
Feder.“ | |
In Malsch ist er eine kleine Berühmtheit. Das Familienreihenhaus sieht man | |
von Weitem zwischen all den pastellfarbenen Giebeln. Knallgrüner Anstrich, | |
Regenbogenflagge auf dem Balkon, Regenwasserzisterne im Garten – darüber | |
werden die Nachbarn oft getratscht haben. | |
Rupp engagiert sich in einer Pro-Windkraft-Initiative, obwohl ihn die Leute | |
aus den hochgelegenen Stadtteilen dafür hassen. Er verteidigt einen | |
ökobewegten Bürgermeister, dessen Wahl angefochten wurde. Er kämpft gegen | |
den Pegida-Ableger in Karlsruhe. Er geht keinem Streit aus dem Weg, wenn es | |
um die wahre und gute Sache geht. | |
## Ruhiger und egoistischer | |
Nun ist er plötzlich der Böse. Was haben Sie aus der Sache gelernt, Herr | |
Rupp? Er sei etwas ruhiger geworden, sagt er. „Und ich habe die Lehre | |
gezogen, egoistischer zu werden.“ Er denke darüber nach, ein Buch über das | |
Twitter-Gate zu schreiben. Solche Sätze sprechen nicht dafür, dass Rupp und | |
die Grünen in Zukunft friedlich koexistieren werden. | |
Bis heute findet er, dass seine Kritik an dem FDP-Wahlkampf richtig ist, | |
bei dem Suding auf Äußerlichkeiten setzte. Grüne KritikerInnen können sich | |
darüber minutenlang am Telefon aufregen. Sein Tweet sei „im Kern | |
sexistisch“, denn der Vorwurf, das Äußere taktisch einzusetzen, treffe | |
traditionell nur Frauen. Oder störte sich jemand daran, dass Olaf Scholz | |
vor der Hamburg-Wahl sanft ausgeleuchtet als Staatsmann posierte? | |
Wie immer, wenn es schmutzig wird, gehen auch die Erinnerungen auseinander. | |
Anton Hofreiter erinnere sich nicht an eine Begegnung in Berlin, richtet | |
sein Büroleiter aus. Und: Die kritischen Rückmeldungen bei der | |
Landesvorstandsklausur hätten „nichts mit einem Maulkorb zu tun“, sagt | |
Landeschef Hildenbrand. „Diese Wahrnehmung finde ich befremdlich.“ | |
Nicht zuletzt war Rupps Tweet keineswegs ein ganz spontaner Ausrutscher. | |
Das erzählt er selbst in der Hausbrauerei. Erst als ein anderer Satz zum | |
FDP-Ergebnis nicht recht zündete, spitzte er noch mal zu – mit Titten. | |
Dieses Schimpfwort, sagt seine Frau, habe sie noch nie von ihm gehört. | |
Dann, als sich ein paar Freidemokraten empörten, ging Rupp zufrieden | |
Koteletts braten. | |
So ist das manchmal, wenn Kleinigkeiten zum Politikum werden. Am Ende | |
lassen sie alle schlecht aussehen, die Medien, die Grünen und Jörg Rupp. | |
17 Jun 2015 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
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