# taz.de -- Deutsche Verantwortung für den 1. WK: Die Sehnsucht, unschuldig zu… | |
> Der Historiker Christopher Clark spricht Deutschland von der | |
> Verantwortung für den Krieg frei. Die Zustimmung ist groß, doch so | |
> einfach ist es nicht. | |
Bild: Rund 17 Millionen Tote forderte der Erste Weltkrieg. Grabsteine für die … | |
Dem australischen Historiker Christopher Clark ist mit seiner Studie „Die | |
Schlafwandler“ über die Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges etwas | |
Erstaunliches gelungen. Das fast tausend Seiten umfassende Werk ist nach | |
Auskunft seines Verlegers hierzulande in nicht einmal einem Jahr 160.000 | |
Mal verkauft worden. Die Welt der historisch Interessierten scheint sich | |
seitdem andersherum zu drehen. | |
Clarks Buch ist elegant geschrieben, es enthält beachtliche | |
Forschungsergebnisse und klare Thesen. Doch das allein erklärt nicht diesen | |
Erfolg. Wir haben schon öfter über historische Bücher gestritten. Im Jahr | |
1961 gab es viel Aufregung über Fritz Fischer, der behauptete, dass der | |
Griff des Kaiserreichs zur Weltmacht der Treibsatz des Ersten Weltkrieges | |
war. Und es gab die erbitterte Diskussion über die Wehrmachtsausstellung in | |
den späten 1990er Jahren. | |
Aber eine solche kollektive Begeisterung für ein historisches Fachbuch ist | |
neu. Bemerkenswerterweise hat es praktisch keine Diskussion über Clarks | |
Thesen gegeben, sieht man von Einwürfen einiger gruftiger Anhänger Fritz | |
Fischers ab. Clarks Gegner muss man mit der Lupe suchen. Warum diese | |
Einmütigkeit? Woher dieser Hype? | |
Offenbar weil Clark uns Deutsche von der Verantwortung für den Ausbruch des | |
Ersten Weltkrieges freispricht. Er attestiert uns, dass unser Nationalismus | |
und Imperialismus vor 1914 in keiner Weise aggressiver war als der der | |
anderen Großmächte. Das lässt uns aufatmen, kollektiv. Es ist ja auch auf | |
Dauer nicht aushaltbar, dass immer nur wir eine schreckliche, | |
zerstörerische Vergangenheit gehabt haben sollen. Offensichtlich hatten wir | |
Sehnsucht nach einer heileren Geschichte Deutschlands. Diese Sehnsucht hat | |
Clark mit Bravour gestillt. | |
## Notwendige Sichtweise | |
Das ist gut und richtig so und eine notwendige Alternative zur Tradition | |
der Fritz-Fischer- und Hans-Ulrich-Wehler-Schulen, die, damals zu Recht, | |
darauf fokussiert waren, den Gründen für den Nationalsozialismus | |
nachzuspüren, um dessen Wiederkehr zu verhindern. Clark hingegen führt die | |
Einwände fort, die angelsächsische Historiker schon in den 1970er Jahren | |
gegen die Tradition der deutschen historischen Selbstbezichtigung | |
vorgebracht hatten. | |
Nein, das Kaiserreich war nicht rettungslos Militarismus und Imperialismus | |
verfallen. Es war keineswegs allein schuldig am Krieg, vielleicht nicht | |
einmal hauptschuldig, dass die Staatenbeziehungen im Zeitalter des | |
Imperialismus immer schwieriger wurden, und dass spätestens ab 1911 eine | |
Kriegswolke über Europa hing. | |
Es war ja auch so: Die Deutschen, die sich zur Weltmacht berufen fühlten, | |
sahen sich immer stärker von feindlichen Mächten „eingekreist“. Besonders | |
Frankreich und Russland drohten auf Dauer eine militärische Zange um das | |
Reich zu legen. Das massive Wettrüsten der europäischen Mächte, das 1912 | |
begann, besonders die Gefahr eines immer stärker werdenden Russlands, | |
brachte es mit sich, dass sich bei den deutschen Politikern und Militärs | |
die Sorge um die Zukunft zum Albdruck verdichtete. | |
Man kann beobachten, wie deshalb bei ihnen ab dem Frühjahr 1914 die | |
Bereitschaft wächst, einen Krieg zu riskieren, nach dem Motto: Krieg | |
„lieber jetzt als später“. Nämlich lieber jetzt als erst dann, wenn | |
Russland Deutschland überrüstet haben wird und es nicht mehr möglich sein | |
wird, zuerst Frankreich zu schlagen und dann die gesamte Heeresmacht gegen | |
Russland einzusetzen. Das war der Schlieffenplan von 1905, sehr riskant und | |
im Grunde basierend auf einer groben Unterschätzung Frankreichs, das man in | |
vier Wochen aus dem Krieg kanonieren wollte, um sich dann Russland widmen | |
zu können. | |
## Lieber jetzt als später | |
Bei den führenden Militärs und Politikern Deutschlands fällt der Ausspruch | |
„lieber jetzt als später“ ab dem Mai 1914 immer häufiger. Dies vor allem, | |
weil sie ab April durch einen Spion in der russischen Botschaft in London | |
erfahren, dass Russland und England dabei sind, eine Flottenvereinbarung zu | |
schmieden. | |
Wir wissen heute, auch dank Christopher Clark, dass die Engländer diese | |
Vereinbarung wollten, um sich Russland vom Hals zu halten, nicht aber, um | |
Deutschland zu bedrohen. Trotzdem steht fest, dass die deutschen Politiker | |
und Militärs, als sie von diesen Planungen Kenntnis erhielten, zu dem | |
Schluss kamen, dass der gefürchtete „Ring der Einkreisung“ sich nunmehr | |
endgültig schließe. Und deshalb wuchs ihre Kriegsbereitschaft ins | |
Unermessliche. | |
Als dann wenig später, am 28. Juni 1914, das Attentat in Sarajewo | |
geschieht, sind sich die deutschen militärischen und politischen Führer | |
bald einig: Man will das Problem zwischen Österreich-Ungarn und Serbien | |
nutzen, um den russischen Kriegswillen zu testen. Denn Russland ist | |
traditionell Schutzmacht der kleinen slawischen Staaten. Berlin erlaubt | |
Österreich-Ungarn, mit Serbien nach Belieben abzurechnen, und verspricht | |
seinem Verbündeten, ihm dabei den Rücken freizuhalten. Sollte Russland für | |
Serbien eingreifen, dann sei Deutschland auch bereit zum Krieg mit | |
Russland. Das ist das Kalkül der Regierung des Kaiserreichs im Juli 1914. | |
Die Krise kommt auf ihren Kulminationspunkt, als Österreich-Ungarn den | |
Serben ein bewusst unannehmbares Ultimatum stellt und alle Bemühungen der | |
anderen Großmächte um Mäßigung von Deutschland kategorisch blockiert | |
werden. Deutschland beharrt darauf, dass der Konflikt auf Serbien und | |
Österreich-Ungarn beschränkt, dass er „lokalisiert“ bleibe. Es fordert von | |
den anderen Mächten, dass diese passiv zusehen, wie Österreich mit den | |
Serben nach Belieben verfährt. | |
## Testen, ob Russland bereit ist | |
Diese Haltung aber versteht damals niemand. Alle fragen sich: Will | |
Deutschland Krieg? Nein, Deutschland will nicht unbedingt Krieg führen, um | |
Weltmacht zu werden, wie Fritz Fischer behauptete. Aber es will im Juli | |
1914 testen, ob Russland tatsächlich bereit ist, für Serbien Krieg zu | |
führen. Und wenn es das tut, dann gilt für die Deutschen: Lieber jetzt den | |
Krieg mit Russland, als später. Ab 1916, so glaubt man, wird Russland | |
militärisch nicht mehr zu schlagen sein. | |
Tatsächlich setzt Russland als Erste der Großmächte ab dem Abend des 30. | |
Juli 1914 die Generalmobilmachung in Gang. Gleichwohl will die russische | |
Regierung weiter verhandeln. Noch am 30. Juli legt Außenminister Sasonow | |
einen neuen Kompromissvorschlag vor: Österreich darf Serbien bestrafen, | |
wenn es verspricht, dessen staatliche Integrität nicht zu verletzen. | |
Doch jetzt brennt die Situation den deutschen Militärs unter den Nägeln. | |
Denn eine solche Armed Diplomacy, das Verhandeln bei gleichzeitiger | |
Kriegsdrohung, wie es sie immer wieder gegeben hatte, ist mit dem deutschen | |
Aufmarschplan nicht zu vereinbaren. Der Schlieffenplan sieht nicht vor, | |
dass Russland seine Mobilmachung vorantreibt und man gleichwohl verhandelt. | |
Nein, er sieht vor, dass Russlands Mobilmachung so langsam vonstatten geht, | |
dass man Zeit hat, erst Frankreich zu schlagen, bevor man gegen Russland | |
aufmarschiert. Am Ende der Julikrise unterwirft sich die deutsche | |
Krisendiplomatie vollständig diesem militärischen Kalkül. | |
Das Resümee lautet somit: Alle Mächte waren vor 1914 an der Zuspitzung und | |
Verfeindlichung des Allianzsystems beteiligt. Genauso wie am Wettrüsten. Da | |
hat Deutschland keine besondere Verantwortung. Aber die Explosion des Juli | |
1914 gab es, weil das Deutsche Reich auf den Zünder drückte. Deshalb ging | |
der Explosionsstoff, den alle gemeinsam angehäuft hatten, hoch. | |
Ganz so einfach wie Clarks Publikum es gerne hätte, ist es mit der Unschuld | |
Deutschlands im Juli 1914 nicht. | |
27 Mar 2014 | |
## AUTOREN | |
Gerd Krumeich | |
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